"400 Seelen" von Ibram X. Kendi & Keisha N. Blain (Hrsg.)

Stand: 27.01.2025, 07:00 Uhr

Ein Buch, das neunzig Autorinnen und Autoren hat und trotzdem nur eine einzige Geschichte erzählt, nämlich die des Afrikanischen Amerika, ist etwas Einzigartiges. Und doch für die Afroamerikaner, die sich mehr und mehr als "Community" begreifen, eigentlich etwas sehr Nahliegendes. Eine Rezension von Peter Meisenberg.

Ibram X. Kendi & Keisha N. Blain (Hrsg.): 400 Seelen. Die Geschichte des Afrikanischen Amerika 1619-2019
btb, 2024.
672 Seiten, 30 Euro.

"Ich gebe der Baumwolle die Schuld. Ich bin acht Jahre alt, trage einen Baumwollsweater und bin guter Dinge. Ich höre, wie ein Schwarzer Mann seine braunen Boots auf Grandmas Veranda abtritt. Im Laufe der nächsten Tage erfahre ich, dass mein Urgroßvater beim Baumwollpflücken zu wahrer Größe auflief. Da er nicht mehr sprechen kann, beantwortet meine Mutter all meine Fragen: Warum sind deine Hände so spröde? Macht die Baumwolle. Warum sind die Gelenke deiner Finger so geschwollen? Macht die Baumwolle. Warum kann er nicht mehr mit uns reden? Macht die Baumwolle."

Heißt es im Beitrag des Schriftstellers Kiese Laymon zu diesem Buch. Ohne den Baumwollanbau in den heutigen US-Bundesstaaten Maryland und Virginia hätte es die Versklavung von Afrikanern nicht gegeben, hätte es die verheerende "color line" nicht gegeben, die strikte Trennlinie zwischen Schwarzen und Weißen, welche die amerikanische Geschichte seit über 400 Jahren durchzog und bis auf den heutigen Tag durchzieht.

"400 Seelen" haben die Herausgeber dieses Buch über das Afrikanische Amerika von 1619 bis 2019 genannt und eine ganz besondere Form der Geschichtsschreibung dafür gefunden: Sie haben 90 Autorinnen und Autoren gebeten, in ihren Beiträgen jeweils fünf Jahren dieser Geschichte zu widmen, sich also sozusagen zu einem literarischen Chor der afroamerikanischen Geschichte zu formieren.

"Und gemeinsam singt dieser Chor Akkorde des Überlebens, des Kampfes, des Triumphes, des Todes, des Lebens, der Freude, des Rassismus, des Antirassismus, der Schöpfung und der Zerstörung – die klarsten Akkorde Amerikas, Jahr für Jahr, Akkorde der Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie für alle. Vierhundert Akkorde."

Schreibt einer der Herausgeber, der Rassismusforscher Ibram X. Kendi, im Vorwort. Die Darstellung beginnt im Jahr 1619 mit der Ankunft der "White Lion" mit dreißig Angolanern und Angolanerinnen an Bord. Für die Autorin Nikole Hannah Jones ein gleich bedeutsames Ereignis wie die die Ankunft der "Mayflower".

Auf den folgenden Seiten nähern sich die Autorinnen und Autoren der Geschichte der Afrikaner in Nordamerika aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: Mal steht eine einzelne Persönlichkeit im Vordergrund, mal ein wichtiges Ereignis wie der Aufstand von 23 Sklaven 1712 in New York. Meistens aber geht es um bedeutsame Prozesse und Gesetze, die die Sklaverei zementieren, wie beispielweise der "Virgina Slave Code" 1705, nach dem auch die christliche Taufe Sklaven nicht zu freien Menschen werden oder der "Fugitive Slave Act" von 1793, der auf Bundesebene das Eigentumsrecht der weißen Besitzer an ihren Sklaven festlegte. Ein Gesetz, dass die Anti-Blackness verfestigte, einer der Meilensteine auf dem Weg in eine durch und durch rassistische Gesellschaft.

"Meine Eltern waren bereits erwachsen, als sie zum ersten Mal die gleichen Toiletten benutzen durften wie die Weißen. Meine Großmutter war schon in fortgeschrittenen Alter, als sie in Alabama zum ersten Mal wählen durften."

Schreibt der Journalist Kai Wright. 1630 wurde der Weiße Hugh Davis ausgepeitscht, weil er mit einer schwarzen Frau geschlafen hatte: Das Weißsein wird fortan zur "Rasse" der Reinheit stilisiert. Die rassistische Anti-Blackness endete nicht mit der Abschaffung der Sklaverei nach dem Ende des um sie geführten Bürgerkriegs 1865. Eigentlich im Gegenteil: Die sogenannten "Jim Crow Gesetze" verschiedener Bundesstaaten verfestigten die Trennung zwischen Weiß und Schwarz bis in die 1960er Jahre hinein. Selbst ein liberaler Präsident wie Bill Clinton erließ noch 1994 mit der "Crime Bill", wie die Autorin Angela Davis schreibt, ein rassistisches, weil gegen die überwiegend schwarzen Gefängnisinsassen gerichtetes Gesetz.

"Einfach nur fortzugehen, ist eine der radikalsten Handlungen, die ein Mensch begehen kann, und wenn die Mittel, seine Unzufriedenheit auszudrücken, so begrenzt sind wie in diesem Fall, dann ist es eine der wenigen Methoden, um Druck auszuüben."

Der "Fall" ist die bei uns wenig bekannte "Great Migration" von 1916 an, die massenhafte Flucht von insgesamt sechs Millionen schwarzer Menschen vor den Jim-Crow Gesetzen und der damit verbundenen Lynchjustiz im Süden in den Norden der USA. Der stillste, gleichwohl mächtigste, aber bei weitem nicht der einzige Protest der Afroamerikaner gegen den weißen Rassismus. Selbstverständlich widmet das Buch diesem Kampf viele Kapitel und das gibt seinen Leserinnen und Lesern trotz allem die Hoffnung, dass es mit der Freiheit in den USA doch nicht zu Ende geht.