Hubert Fichte/Peter Michel Ladiges: "In Gedanken unterhalte ich mich die ganze Zeit mit Dir." Briefe
Herausgegeben von Peter Braun.
S. Fischer Verlag, 2024.
400 Seiten, 32 Euro.
"Port-au-Prince, Haiti. Lieber Michel, ich biete einen einigermaßen surrealistischen Aspekt. Du siehst mich durch die ganze Republik pilgern, ein Beutelchen mit Ritualpflanzen in der Hand, von einer Einweihungsstätte steinzeitlichen Charakters zur anderen – von Schwefelbädern zu Schlammkuren, Stieropfern, Trampelerweckungen. Ich arbeite oft 17 Stunden am Tag. Übrigens erwäge ich, ob ich eine große zusammenfassende Darstellung des Voodoo schreiben soll."
Schreibt Hubert Fichte im August 1972 an den Radio-Regisseur Peter Michel Ladiges. Seit 1971 bereist Fichte mit seiner Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, Afrika, Südamerika, besonders Brasilien und die Karibik. Dem in Europa und den USA wachsenden intellektuellen Interesse an der Ethnologie folgend, haben sie sich auf die Reise gemacht, um den afroamerikanischen Mischreligionen wie dem Voodoo auf die Spur zu kommen.
Hubert Fichte ist als Schriftsteller sozusagen von Hause aus Ethnograf: In seinem zweiten Roman, "Die Palette" von 1968, hatte er bereits so etwas wie eine poetische Ethnografie des Inlands betrieben. Darin untersuchte er das bunte Gemisch aus Strichern, Gammlern und Hafenarbeitern in der Hamburger Szenekneipe "Palette" und brachte das in eine literarisch überzeugende Form.
Nun also ist die Magie der afroamerikanischen Kulte sein Thema – und wieder findet er eine überzeugende literarische Form für die Darstellung seiner Forschungen. Das ist das Radiofeature – und in diesem Metier hat er zu dem in dieser Zeit herausragenden Regisseur Peter Michel Ladiges gefunden. Zwischen beiden entwickelt sich im Laufe ihrer intensiven Zusammenarbeit eine enge Freundschaft, über ihre unterschiedliche sexuelle Orientierung hinweg: Fichte ist offen schwul, Ladiges heterosexuell, Vater mehrerer Kinder.
"Aber ich kann dir nur sagen, Hubert, wie du dir dein Leben eingerichtet hast: ich wüsste nicht, wie man es besser machen sollte, und ich bin da noch lange nicht. Ich meine so an Komplettheit, wenn du mich verstehst. Jedenfalls wirkt es so auf mich. Ich selbst fühle mich da sehr viel zerrissener. Dein Leben hat für mich wirklich etwas Schönes. Selbst vom Schreiben an dich werde ich fröhlicher."
Der von Peter Braun herausgegebene und sorgfältig kommentierte Briefwechsel zwischen Fichte und Ladiges umfasst den Zeitraum von 1971 bis 1985. Im Zentrum des Buches aber stehen die Briefe, die sie sich während der Südamerikareisen Fichtes zwischen 1971 und 1974 schickten.
Denn sie dokumentieren nicht nur dessen ethnologische Forschungsprojekte, sondern auch den Entstehungszusammenhang ihres gemeinsamen Werkes, zu dem Ladiges auch eigene Forschungsprojekte einbrachte. Und das sind die oft mehrstündigen Radiofeatures, die Ladiges aus den Texten herstellte, die Fichte ihm schickte. Und sie sind in gewisser Weise auch ein Dokument der Radiogeschichte – insofern, als Ladiges als einer der ersten Regisseure damit begann, sogenannte O-Töne für die Features zu verwenden: Die von Fichte per Tonband gesammelten Interviews, Geräusche und Musiken.
"Lieber Michel, gerade kommen wir aus einer Totenfeier eines kongolesischen Candomblés im Urwald, den einzigen kongolesischen, den es in Bahia gibt. Wir haben insgeheim Tonbandaufnahmen gemacht und damit wohl etwas Einzigartiges realisiert."
In einem umfangreichen Anhang an die zwischen Fichte und Ladiges gewechselten Briefe hat der Herausgeber Peter Braun unter der Überschrift "Das Hörbarmachen der Wörter" die Entstehung dieses neuen Typs dokumentarischen Erzählens ausführlich kommentiert und analysiert. Es ist eine sehr viel buntere als die bisherige, meist nur von Sprecherinnen und Sprechern gestaltete Form des Features. Sie entwickelt sich aus den von Fichte und Ladiges realisierten ethnologisch-poetischen Dokumentationen.
Für Fichte blieb es nicht nur bei den Features: Aus dem von ihm gesammelten Material und den Fotografien von Leonore Mau entstanden zwei Bildbände über afroamerikanische Religionen, 1976 "Xango" und 1980 "Petersilie". Bedenkt man überdies, dass Fichte während seiner Reisen auch noch an seinem wichtigsten und literarisch bedeutsamsten Roman "Versuch über die Pubertät" schrieb, kann man ermessen, welches Arbeitspensum er sich in dieser Zeit auferlegte. Trotzdem sind seine Briefe an Ladiges sehr unterhaltsam und ein schönes Zeugnis der Ethnopoesie Hubert Fichtes.