"Armenische Reise" von Wassili Grossman

Stand: 04.09.2024, 07:00 Uhr

Nach der Beschlagnahmung seines Jahrhundertromans Leben und Schicksal reist der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman im Winter 1961 zwei Monate lang durch Armenien. Herausgekommen ist die literarische Reportage „Armenische Reise“, Bekenntnisse, Essays und Anekdoten aus einem gebrandmarkten Land. Das Zeugnis eines großen Humanisten. Eine Rezension von Stefan Berkholz.

Wassili Grossman: Armenische Reise
Aus dem Russischen von Christiane Körner.
Claassen, 2024.
208 Seiten, 24 Euro.

"Armenische Reise" von Wassili Grossman Lesestoff – neue Bücher 04.09.2024 05:32 Min. Verfügbar bis 04.09.2025 WDR Online Von Stefan Berkholz

Download

Im November 1961 begibt sich der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman auf die Reise nach Armenien, es ist eine Auftragsarbeit zunächst, ein Entgegenkommen der Parteiführung, um Grossman nicht ins Renegatentum zu drängen. Denn Anfang des Jahres war Grossmans Manuskript „Leben und Schicksal“, die Fortsetzung seines Romans „Stalingrad“, vom sowjetischen Geheimdienst KGB beschlagnahmt worden. Die zweimonatige Reise durch Armenien ist für Grossman eine willkommene Ablenkung.

"Am Morgen des 3. November traf ich mit dem Zug in Jerewan ein. Niemand holte mich ab, dabei hatte ich Martirosjan, dem Schriftsteller, dessen Buch ich hier übersetzen sollte, vor meiner Abreise telegrafiert. Ich war sicher gewesen, dass ich abgeholt werden würde, ich hatte sogar damit gerechnet, dass nicht nur Martirosjan kommen würde, sondern auch ein paar andere armenische Schriftsteller."

Grossman ist zunächst auf sich allein gestellt. Rund vier Wochen hält er sich in der Hauptstadt Eriwan auf, danach reist er durchs Land. Von der armenischen Literaturszene wird er auffallend ignoriert, was ihn bekümmert, hatte er doch bereits zuvor verschiedene Texte über jenes fremde Land veröffentlicht.

"Kurz, einen so gleichgültigen Empfang hatte ich nicht erwartet, ich hatte stattdessen angenommen, man würde Interesse daran zeigen, mich in ‘Literarisches Armenien‘ zu drucken […]. Ich hatte sogar eine kleine Erzählung mitgebracht, weil ich damit rechnete, dass ich um einen Text gebeten würde, doch ich wurde um nichts gebeten."

Kontakt zur Bevölkerung bekommt er erst auf dem Land und in Dörfern. Aus seinen Begegnungen und Erlebnissen formt Grossman einen Streifzug durch die Historie des Landes: die Repressionen der 1930er Jahre, den Stalinkult, den Zweiten Weltkrieg, die Massaker an den Armeniern in der Türkei, die nationalsozialistischen Verbrechen. Aber er berichtet auch von Alltagsbegegnungen, gibt Einblicke in die Armut und Herzlichkeit seiner Bewohner, bewundert ihre Traditionen und Sitten.

"Wie merkwürdig kommt es mir vor, dass ich, der Fremde aus Moskau, vor ein paar Tagen zum ersten Mal einen Fuß in diese Gebirgssiedlung gesetzt habe, von deren Existenz ich vorher nichts ahnte. »Barew, alles Gute«, sagen die Leute, die mir entgegenkommen. »Barew dses, Ihnen alles Gute!«, sage ich und ziehe den Hut. Lauter nette gute Bekannte um mich herum."

„Barew dses“, unter diesem Titel erschien die Originalausgabe 1998 erstmals in Moskau. Wassili Grossman findet „im Gebirge verstreute Dörfer“ und uralte, immer noch bewohnte Höhlen, in denen, wie er schreibt, „viele Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung“ bereits Menschen lebten. Er stößt auf „eine alte Kapelle, errichtet in einer Schlichtheit und Vollkommenheit, die für die Menschen von heute unbegreiflich ist“. Er erstarrt förmlich vor dem Berg Ararat – „er wächst gleichsam aus dem Himmel statt aus der Erde“, schreibt der Schriftsteller.

"Diesen schneebedeckten, bläulich weißen, in der Sonne schimmernden Berg sahen die Augen derer, die die Bibel schrieben."

Grossman stellt Überlegungen zum Nationalcharakter dieses Volkes an, er staunt über die Wunder der Natur, ihre Schlichtheit und Größe, ihre „innere Weisheit“, wie er schreibt, und er bezeichnet jeglichen Stein in dieser kargen Landschaft als „Ausdruck von Charakter und Seele des armenischen Landes“. Aber er notiert auch Abstoßendes.

"Doch manchmal erfuhr ich auch chauvinistischen Hass, der mir unter die Haut ging, mich ins Herz traf. Ich hörte schwarze Worte, gerichtet an das von Hitler gemarterte jüdische Volk, von Betrunkenen im Bus, in der Warteschlange, in der Gaststätte. Es schmerzt mich bis heute, dass unsere Dozenten, Propagandisten, Funktionäre an der ideologischen Front nicht mit Reden und Büchern gegen den Antisemitismus auftreten wie damals Korolenko und Gorki, wie Lenin."

Die „Armenische Reise“ ist das Zeugnis eines großen Humanisten. Man kommt dem Schriftsteller hier auch näher, etwa, wenn er die eigene Unvollkommenheit ironisch auf die Schippe nimmt und von körperlichen Beschwerden, von Ängsten und seiner Bewunderung und seinem Respekt für die fremde Kultur berichtet. Es ist ein sehr persönlicher Reisebericht, mit Erkenntnissen für die Gegenwart.