Illustration: Mehrere weibliche und männliche Personen sitzen miteinander kommunizierend an einem runden Tisch. In Sprechblasen über ihnen sind verschiedene Icons abgebildet wie das für das Internet, ein Geldbeutel oder eine Glühbirne.

Arbeit ohne Hierarchie

Was, wenn wir keine Chef:innen hätten?

Stand: 04.12.2024, 15:35 Von Caroline Weigel Gedankenspiele

Von Caroline Weigel

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Job ohne Vorgesetzte: Was wäre anders? Gäbe es mehr Freiheit oder Verantwortung? Wer würde Entscheidungen in einer Welt ohne Chef:innen treffen?

Am Spruch "Mitarbeiter verlassen keine Unternehmen, sondern ihre Chefs" scheint tatsächlich etwas dran zu sein: Laut einer Erhebung der Unternehmensberatung Ernst & Young aus dem Jahr 2023 war die Unzufriedenheit mit Vorgesetzten der Hauptgrund für knapp 30 Prozent der Jobwechsel. Nur ein zu niedriges Gehalt hat noch mehr Jobwechsel veranlasst (34 Prozent).

Illustration: Eine weibliche Person an einem Schreibtsich ist mit mehreren Teilnehmer:innen in einem Videochat, den man auf ihrem Bildschirm sehen kann.

Neue Organisationsformen verändern die Arbeitswelt

Auch um schneller auf Veränderungen und wechselnde Anforderungen reagieren zu können, setzen inzwischen viele Unternehmen auf neue, weniger starre Arbeitsmodelle. Die Mitbestimmung und Selbststeuerung durch Beschäftigte stehen immer mehr im Vordergrund.

Das beginnt mit flexibleren Arbeitszeiten und -orten und endet bei einer Anpassung der gesamten Unternehmensstruktur. Auch das Arbeiten ohne klassische Führungskräfte funktioniert in einigen Unternehmen schon – wir zeigen wie.

Holokratie und Soziokratie: Definition und Beispiele

Unternehmen, die sich selbst organisieren und nicht in klassischen Hierarchien arbeiten, folgen häufig Prinzipien der Sozio- oder Holokratie. Diese Organisationsmodelle sind in einigen Punkten ähnlich und bauen in Teilen aufeinander auf. Beide Begriffe bezeichnen Organisationsmodelle für die Arbeitswelt, die sich durch flache Hierarchien und Mitbestimmung auszeichnen.

Bei der Soziokratie abgeleitet vom lateinischen socius (= Gefährte) und dem altgriechischen kratia (=Herrschaft) - steht die Gleichwertigkeit aller Mitarbeitenden im Vordergrund. Das bedeutet, dass jede Stimme (unabhängig von der Position) Gehör findet und Entscheidungen möglichst gemeinsam getroffen werden. Dabei gilt das Konsentprinzip: Beschlüsse können nur dann gefasst werden, wenn niemand mehr schwerwiegenden Einwände hat. 

Auf der Soziokratie aufbauend wurde die Holokratie entwickelt. Der Begriff leitet sich vom altgriechischen holos (= vollständig) ab und bedeutet so viel wie "ganzheitliche Führung". Hier übernehmen Mitarbeitende in selbstverwalteten Rollen oder Kreisen klar definierte Verantwortlichkeiten und handeln darin eigenständig. Entscheidungen müssen nicht von allen getroffen werden, sondern von den Rollen oder Kreisen, die dafür zuständig sind. 

Einzelpersonen tragen in sozio- oder holokratisch organisierten Unternehmen keine klassischen Berufsbezeichnungen, sondern erfüllen Funktionen. Statt eines "Projektmanagers" gibt es in selbstorganisierten Unternehmen also Angestellte, die beispielsweise die Funktionen "Projektplanung", "Zeitmanagement" und "Budgetierung" erfüllen.

Statt in Hierarchien ist das Unternehmen in Kreisen organisiert, die mit Arbeitskreisen oder Unternehmensbereichen vergleichbar sind, wie zum Beispiel Marketing, Vertrieb oder Finanzen.

Mitarbeitende arbeiten hier häufig in Rollen. Die Rollen verändern sich je nach Situation: Ist ein Projekt beispielsweise abgeschlossen, verändern sie sich oder fallen komplett weg. Mitarbeitende verlieren dadurch aber nicht ihre Jobs, sondern erschaffen neue Rollen, die zu ihnen passen.

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Auch wenn es die klassische Führungskraft hier nicht gibt: Auf dem Papier geht es noch nicht ohne Chef:innen. Vor dem Gesetz haften in holokratisch organisierten Unternehmen trotzdem noch Geschäftsführer:innen und haben meist Vetorechte für besonders weitreichende Entscheidungen.

Was, wenn wir mehr auf individuelle Stärken setzen?

Beim Steuersoftwareanbieter "Smartsteuer" gibt es seit 2019 keine Berufsbezeichnungen mehr. Alle Mitarbeitenden sollen sich den Titel geben, der ihnen am besten bei der Arbeit hilft. Gemeinsam müssen sie hier unabhängig von Jobbeschreibungen ihre individuellen Stärken finden.

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Besonders in größeren, hierarchisch organisierten Unternehmen gehen die Fähigkeiten von Mitarbeitenden oft unter oder schlummern sogar für sie unentdeckt in ihnen. In selbstorganisierten Unternehmen müssen sich Angestellte für ein Projekt häufig die Personen mit passenden Skills zusammensuchen – oder bilden sich sogar selbst entsprechend weiter.

Mehr Verantwortung kann motivierend sein

Mehr Selbstbestimmung führt häufig auch zu mehr Motivation bei der Arbeit. Durch das Gefühl von Wirksamkeit leisten Mitarbeitende oft sogar bessere Arbeit.

Das Team bei Smartsteuer sei durch das Arbeiten ohne Hierarchien experimentierfreudiger geworden, sagt der ehemalige Geschäftsführer Björn Waide. Das sei auch ein Grund für die Umstellung gewesen. Für jedes Thema finde sich jemand, der Lust habe, sich darauf zu spezialisieren.

Holokratie oder Soziokratie: Entscheidungen mit Konsent statt Konsens

Entscheidungen werden in holokratisch oder soziokratisch organisierten Unternehmen unterschiedlich getroffen. Dass Einzelpersonen keine Entscheidungen allein treffen, bedeutet nicht, dass immer ein Konsens herrschen muss. Statt auf demokratische Abstimmungen wird auf Konsent gesetzt: Eine Person macht einen Vorschlag; gibt es keine triftigen Einwände, wird der Vorschlag umgesetzt.

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Eine andere Art der Entscheidungsfindung: Die verschiedenen Rollen treffen Entscheidungen in ihren Bereichen. In der Holokratie gibt es zwischen den verschiedenen Kreisen sogenannte "Lead Links". Personen, die diese Funktion ausfüllen, teilen zum Beispiel Rollen zu, wenn sich diese nicht selbst ergeben, und moderieren zwischen den Kreisen.

Ohne offene Kommunikation funktioniert es nicht

Generell ist offene und transparente Kommunikation in Unternehmen, in der alle Verantwortung tragen, sehr wichtig. Der E-Mail-Verkehr zwischen Einzelnen weicht hier dem offenen Gruppenchat. Nur wer alle Informationen hat, kann auch die richtigen Entscheidungen fürs Unternehmen treffen.

Illustration: Eine weibliche Person an einem Schreibtsich ist mit mehreren Teilnehmer:innen in einem Videochat, den man auf ihrem Bildschirm sehen kann.

Das oft engere Zusammenarbeiten in den Teams sorgt aber auch für mehr Konfliktpotential, zwischenmenschliche Unstimmigkeiten werden sichtbarer. Zum Beispiel in "Personal-Relations-Meetings" werden diese Konflikte von Mediator:innen begleitet angesprochen und aufgearbeitet.

Nachteile von Holokratie und Soziokratie

Ob das Arbeiten ohne Chef:innen funktioniert, hängt nicht nur von Führungskräften ab, die bereit sein müssen, ihre Macht abzugeben, sondern auch von Mitarbeiter:innen, die diese Verantwortung auf sich nehmen möchten.

Mehr Verantwortung bedeutet unter Umständen auch Mehrarbeit und einen Drang zur Selbstoptimierung. Druck von außen wird nicht durch Führungskräfte abgefedert, sondern lastet auf allen Mitarbeitenden.

Für einige Mitarbeitende könnte die zusätzliche Freiheit in selbstorganisierten Unternehmen auch überfordernd sein. Durch die flexiblere Arbeitsgestaltung fehlt es an manchen Stellen möglicherweise an der nötigen Trennung zwischen Job und Privatleben.

Klare Hierarchien — gar nicht so unbeliebt

Manche wünschen sich außerdem klare Aufträge von Vorgesetzen. Das zeigt auch eine Studie der Unternehmensberaterin Vanessa Jobst-Jürgens und dem Marktforschungsinstitut respondi aus dem Jahr 2020: Gut 40 Prozent der rund 1.200 befragten Personen wünschten sich eine Führungskraft, die ihnen genau vorgibt, was sie tun sollen.

Das klassisch hierarchisch aufgebaute Arbeitsmodell mit meist geregelten Arbeitszeiten und klar umrissene Aufgaben wird so für manche zur Komfortzone, in der nicht alles selbstständig durchdacht werden muss.

"Karriere machen" in einer Holokratie ist schwierig

Head of Marketing, Senior Manager, CEO: Die klassische Karriereleiter gibt es in holokratisch organisierten Unternehmen nicht. Richtig Karriere machen wird hier also schwierig. Gut ist aber: Statt Energie in Machtkämpfe zu stecken, können sich Mitarbeitende besser auf die eigentliche Arbeit konzentrieren.

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