Es hat lange gedauert, bis ihn die Bilder aus der Nacht nicht mehr aus dem Schlaf gerissen haben. Doch sie sind bis heute präsent. Dabei kam Gerd Uhrig erst knapp eine halbe Stunde, nachdem der erste Notruf aus der Unteren Wernerstraße in Solingen bei der Feuerwehr eingegangen war, an den Ort des Geschehens. "Den Kollegen war sehr schnell klar, dass das etwas Schreckliches war", erinnert sich der ehemalige Leiter der Solinger Polizei. Als er in die Straße einbiegt, wird auch ihm das Ausmaß der Tragödie bewusst. Bis heute geht dem ehemaligen Polizisten ein Schicksal besonders nahe: das der jungen Frau, die in den Tod stürzte, noch bevor die Feuerwehrleute ihr Sprungtuch ausbreiten konnten, Gürsün Ince. "Sie lag da auf dem Boden, während um sie herum die Löscharbeiten weitergingen."
Wendepunkt im Zusammenleben der Menschen
Gerd Uhrig kam damals nicht dazu, die Eindrücke zu verarbeiten. Es gab andere Dinge zu tun. Der rassistische Anschlag markiert einen Wendepunkt im Zusammenleben der Menschen in der bergischen Stadt. Anders als etwa in Mölln erwachten die türkischstämmigen Bürger aus ihrer Schockstarre und setzten sich zum ersten Mal deutlich gegen den Fremdenhass zur Wehr. Für Solingen hatte das Folgen, die bis heute nachwirken.
Stunden nach der Tat versammeln sich Menschen mit türkischen Fahnen vor dem Haus. Von dort ziehen sie in das Stadtzentrum und blockieren Straßen. Uhrig lässt die aufgebrachten Menschen gewähren, sichert die Demonstrationen nur ab. Immer mehr Türkischstämmige kommen an diesem Wochenende ins Bergische Land. Die Situation beginnt, aus dem Ruder zu laufen, doch der Polizei fehlen die nötigen Einsatzkräfte. "Die waren alle andernorts gebunden", erinnert sich Uhrig.
Opfer werden zu Tätern gemacht
Das bis dahin beschauliche Leben in der Stadt wird auf den Kopf gestellt. Doch nicht der Brandanschlag mit fünf Opfern rückt bei den Bürgern ins Blickfeld, sondern die Proteste. Als in der Stadt Schaufensterscheiben zu Bruch gehen und Matratzen brennen, schlägt die Stimmung bei vielen um. Die Wahrnehmung verändert sich. Moralisch werden aus den Opfern Täter gemacht. Noch heute ist die Sichtweise der Solinger auf das Verbrechen gespalten. Während sich politisch engagierte Bürger um die Familie Genç kümmern und ein Mahnmal errichteten, wird von vielen anderen nur der Krawall gesehen. Solingen, das wegen seiner Schneidwaren Weltruf genießt, werde wegen des Anschlags in ein schlechtes Licht gerückt, beklagen viele Solinger.
Immer noch Zweifel an der Täterschaft der Verurteilten
Diese Einstellung hat sich im Laufe der Jahre verfestigt. Auch an der Täterschaft von vier jungen Männern gibt es unter den Solingern bis heute große Zweifel. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte die vier Solinger 1995 zu Höchststrafen von zehn und 15 Jahren verurteilt. Drei von ihnen kommen aus einem für die Stadt typischen bürgerlichen Elternhaus. Dass Rassismus auch ein Problem in Solingen ist, wollen viele Bürger nicht wahrhaben. "Ich glaube nicht, dass es die Jungs waren", ist ein Satz, den man in Solingen bis heute zu hören bekommt, wenn man die Tat anspricht.
Außerdem neiden viele den Angehörigen der Opfer, wie sie in Solingen leben. Gerüchte über angebliche Vorteile für die Familie machen die Runde. Das neue Haus der Familie wurde mit Geld der Versicherung und Spenden finanziert. Zwei Söhne haben Arbeit bei der Stadt gefunden. Wegen seiner schweren Brandverletzungen hätte Bekir Genç wohl auch kaum eine Chance gehabt, einen anderen Arbeitsplatz zu finden.
Schüler zwischen Unwissenheit und Fremdschämen
So wird vor allem jungen Menschen in der Stadt, die nach dem Anschlag geboren wurden, ein verzerrtes Bild dessen vermittelt, was damals passierte. Vom Brandanschlag hören viele junge Solinger zum ersten Mal in der Schule. Inzwischen haben viele die Bilder des brennenden Hauses gesehen. So ging es auch Kevin. "Das macht so ein Gefühl von Fremdschämen, wenn wir das heute sehen", sagt er. Ein Mitschüler aus der Klasse der Friedrich-List-Schule stimmt dem 18-Jährigen zu. "Es waren ja Deutsche, die so was gemacht haben. Das kann ich nicht verstehen." Die Schüler glauben, erst durch den Unterricht den Anschlag richtig verstehen zu können. Doch nur wenige von ihnen waren am Tatort von damals.
Fünf Kastanien erinnern an die Toten
Immer wieder sieht man Schulklassen an dem grünen Zaun in der Unteren Wernerstraße. Dort, wo bis vor 23 Jahren das Haus der Familie Genç stand, wachsen fünf Kastanien, eine für jedes Opfer. Vom Gebäude sind nur noch wenige Ziegelsteine des Kellers zu sehen. Doch schon diese wenigen Spuren führen bei den jugendlichen Besuchern zu lebhaften Gesprächen. "Ich kann mir das gar nicht vorstellen, aus dem Fenster zu springen", sagt eine Schülerin. "Naja, wenn um dich herum nur noch Flammen sind", antwortet eine andere. "Wahrscheinlich wäre ich auch gesprungen." Am Ort des Anschlags bekommen die Schüler eine Ahnung davon, welche Schrecken die Mitglieder der Familie in jener Nacht durchlebten. Eindrücke, die auch die Schüler erst einmal verarbeiten müssen. Auf dem Weg zurück zur Schule sprechen sie noch lange über die Tat und ihre Folgen.