WDR.de: Sie waren 19 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Wie haben Sie diesen Tag vor 75 Jahren erlebt?
Heinz Decker: Als der Schnäuzer an die Macht kam, war das für uns ein Tag wie jeder andere. Wir hatten in den Jahren zuvor so viele Regierungswechsel gehabt. Und wir wussten durch die Zeitung, dass Hitler und Hindenburgs Vertrauter, Franz von Papen, sich am 4. Januar in Köln-Lindenthal getroffen hatten, um eine neue Regierung zu planen. Dass dann am 30. Januar die Entscheidung bei Hindenburg in Berlin gefallen war, habe ich am Nachmittag am Radio gehört. Am anderen Tag machte die SA in Köln einen großen Fackelzug.
Bei solchen Sachen musste ich immer mit der Nase dabei sein. Mein Fahrrad stand deshalb startbereit im Agnesviertel im Hinterhaus, wo wir gewohnt haben. Ich bin in die Stadt gefahren und habe mir den Fackelzug anguckt. Die zogen über den Heumarkt. Aus Richtung Buttermarkt, wo einige Kommunisten gewohnt haben, gab es Sprechchöre: "Der Hitler kann uns am Arsch lecken." Die SA konnte ihren Marsch aber nicht verlassen und sie zusammenschlagen. Das kam später erst.
WDR.de: War Ihnen bewusst, dass Sie den Anfang einer Diktatur erleben?
Decker: Nein. Selbst die Kommunisten haben gesagt, lasst den ruhig mal dran. Der ist jetzt Reichskanzler, aber der macht das nicht lang. Der läuft sich tot - und dann kommen wir. Da haben sich alle getäuscht.
WDR.de: Was hat sich durch die Machtübergabe in Ihrem Alltag geändert?
Decker: Die Veränderungen kamen nicht plötzlich, sondern schrittweise. Eine Nachbarin, die mich immer mit "Guten Tag" gegrüßt hatte, kam eines Morgens und sagte "Heil Hitler" zu mir. "Was ist denn mit Ihnen los?", habe ich sie gefragt. Das konnte man sich da noch erlauben. Nach zwei, drei Monaten staunte ich, wer alles in Uniform und mit Parteiabzeichen herumlief. Die NSDAP hatte einen solchen Zulauf, dass im März vorerst Aufnahmesperre war. Erstaunlich war auch, wie schnell Leute von dieser Handbewegung (macht eine Faust) zu dieser Handbewegung (streckt die Hand aus) kamen. Wir nannten die Beefsteaks: innen rot, außen braun.
Auf den Straßen gab es Keilereien. Wer sich politisch betätigte, hatte mit der SA zu tun. Ich war Jugendschar-Führer bei der Katholischen Jugend und hatte in der Manteltasche immer eine Fahrrad-Kette dabei. Mich haben sie aber nie angepackt. Aber ein Jungmann von uns wurde zusammengeschlagen. Manchmal kam es auch zu Schießereien. Die SA hatte schon im Februar 1933 eine eigene Hilfspolizei mit Karabinern. Die Kommunisten hatten auch Schießeisen. Bei uns in der Ecke sind zwei SA-Männer aus Rache erschossen worden, weil sie kurz vorher noch bei der Rotfront waren.
WDR.de: Wie hat sich Ihre Familie damals verhalten?
Decker: Ich habe mit meinem Stiefvater einige Auseinandersetzungen gehabt. Wir waren eine katholische Arbeiterfamilie. Aber er war seit 1932 arbeitslos und kam so langsam ins Fahrwasser der Nazis. Doch diese Flausen hat er dann schnell gelassen. Meine Schwestern mussten auch nicht in den BDM. Meine Mutter war unpolitisch. Die hat sich meistens nach meinem Vater gerichtet.
Ich hatte aber einen Onkel, der Bruder meiner Mutter, der spielte nach 1934 bei der Reichsbahn eine große Rolle als Nazi, seine Frau noch doller. Der bearbeitete mich immer, ich sollte aus der katholischen Jugend austreten. Er würde mir dafür eine Beamtenstelle besorgen. Das habe ich aber abgelehnt.
WDR.de: Sie haben zu dieser Zeit eine Schlosser-Lehre bei Klöckner-Humboldt-Deutz absolviert und Abendkurse an einer Ingenieurschule besucht. Gab es Veränderungen im Betrieb und in der Schule?
Decker: In der Berufsschule hatte ich eine ganze Reihe SAJ-Kollegen, also sozialistische Arbeiterjugend, in der Klasse. Man kam immer gut mit den Burschen aus. Aber die kamen auf einmal in HJ-Uniform in die Schule. Ab 1934 war die Schule für mich aus und ich stand im technischen Büro am Reißbrett. Da waren eine ganze Reihe Kollegen, die ungefähr die selbe Richtung wie ich hatten. Einer meiner Mentoren, ein guter Ingenieur, hat mir mal gesagt, als ich mich in den Urlaub verabschiedet habe: "Erhalten Sie sich fürs Vierte Reich". Ich habe damals gestaunt, dass er sich so was traute. Wenn das ein Dritter gehört hätte, das wäre ein KZ-Grund gewesen.
Es hat zwei, drei Jahre gedauert, bis man morgens auf der Arbeit mit "Heil Hitler" grüßte. Einer der Ingenieure hat das dennoch nicht gemacht. Das hat der Betriebsobmann festgestellt und ihm gesagt: "Du musst den Deutschen Gruß machen!" Eines Morgens haben SA-Männer dann den Ingenieur zusammengeschlagen. Auf einmal hing im Werk am Schwarzen Brett ein Spruch, der hieß: "Nur nicht so laut Heil Hitler schreien, und sich dabei nichts denken. Den Deutschen Gruß, mein lieber Freund, den kannst du dir ruhig schenken. Sag lieber 'krummer Hund' zu mir, wenn du beliebst zu scherzen. Doch wenn du mit Heil Hitler grüßt, dann ehrlich und von Herzen." Der Erfolg war, dass einige Kollegen sich still und leise mit "Krummer Hund" gegrüßt haben. Wer das angebracht hat, haben die Nazis nie rausgekriegt.
Zum zweiten Teil: Wie sich die Machtübergabe auf Heinz Deckers katholische Jugendgruppe ausgewirkt hat. [mehr]
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