In den 70er Jahren hat Bauer Friedrich Böse Probleme mit der Energie. Für seinen Kuhstall im norddeutschen Dorf Päpsen bei Bremen braucht er warmes Wasser, aber bis zur nächsten Steckdosen in seinem Wohnhaus sind es einige hundert Meter. Kurzerhand baut Böse eine Solaranlage.
Als deren Kraft nicht reicht, bastelt sich der Bauer aus alten Lkw-Teilen einen Generator, an den er vier Flügel schweißt, und montiert die Konstruktion auf einen zwölf Meter hohen Mast. 5.000 D-Mark kostet ihn sein Windrad, und es funktioniert einwandfrei. Das kann man von der 90 Millionen Mark teuren "Großen Windenergieanlage" (Growian) nur bedingt behaupten.
Frischer Wind dank Ölkrise
Der Gedanke, Windkraft in nutzbare Energie umzuwandeln, ist nicht neu. Vor rund 4.000 Jahren bereits bauen die Babylonier Windmühlen. Im Europa des Mittelalters werden diese zu den wichtigsten Arbeitsmaschinen überhaupt. Noch Ende des 19. Jahrhunderts sind in Deutschland etwa 19.000 Windmühlen in Betrieb. Erst der Einsatz von Kohle, Öl und Erdgas bei der Energieversorgung nimmt ihnen den Wind aus den Segeln.
Die Wende kommt 1973 mit der großen Ölkrise, die der Bundesrepublik die größte Rezession ihrer noch jungen Geschichte einbringt. Sie lehrt auch die Politik, sich nicht einseitig auf Erdöl aus dem Nahen Osten zu verlassen und sich nach alternativen Energiequellen umzusehen.
Bereits 1975 starten Wissenschaftler mit Studien, die eine Windkraftversuchsanlage vorbereiten sollen. Zwei Jahre später liegen baureife Unterlagen vor. Dann erhält der Münchner "Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg" (MAN) den Auftrag, Growian zu bauen. Da kein Energieversorger bereit ist, in die Anlage zu investieren, übernimmt das Forschungsministerium.
Strom für 250 Einfamilienhäuser?
Windkraftanlagen gibt es da weltweit schon einige, aber Growian soll sie alle übertreffen. Tatsächlich überragt die Windenergieanlage alle bisherigen Konstruktionen: Ihre beiden Flügel mit 100 Metern Durchmesser hängen an einem Turm, der fast so hoch ist wie der Kölner Dom. Am 4. Oktober 1983 geht Growian im Dittmarscher Kaiser-Wilhelm-Koog in Betrieb. 250 Einfamilienhäuser soll die Anlage jährlich mit Strom versorgen. Zuvor hatten sich die Stromkonzerne HEW, RWE und Schleswag eher widerwillig zu einer Betreibergesellschaft zusammengeschlossen.
Die Zukunft der Windenergie steht dabei unter keinem guten Stern. Heiße Rotorbremsen, zersplissene Flügel, Risse in der Nabe: Immer wieder muss Growian wegen Materialermüdung vom Netz genommen und ausgebessert werden. Dann schlagen plötzlich Reparaturen mit rund zehn Millionen Euro zu Buche, die Forschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) nicht mehr tragen will. Im Sommer 1985 beschließt die Bundesregierung, Growian abzureißen. Sie setzt lieber auf Atomenergie.
Klewian statt Growian
Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wird Growian doch noch einmal notdürftig repariert; 1987 ist dann endgültig Schluss. Ernüchterndes Fazit: In den knapp drei Jahren seiner Existenz ist die größte Windenergieanlage der Welt gerade einmal 17 Tage in Betrieb gewesen.
Noch im selben Jahr allerdings eröffnet im Kaiser-Wilhelm-Koog der erste Windpark Deutschlands: Mit 30 "Kleinen Windenergieanlagen" (Klewian), die Strom für 400 Haushalte produzieren. Heute versorgen über 22.000 Windräder Deutschland mit 30.000 Megawatt Strom. Das entspricht der Kapazität von vier Atomkraftwerken.
Stand:04.10.2013
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