Stichtag

1. Juni 1923 - Erstes Mieterschutzgesetz wird verkündet

Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Wohnverhältnisse in Deutschland katastrophal. Allein in Berlin gibt es 1910 mehr als 50.000 Wohnungen, die überhaupt keine Heizung oder nur ein heizbares Zimmer haben. Zum Teil sind sie auch überbelegt. Manche Bewohner nehmen es mit Humor, so soll einer der Überlieferung nach gesagt haben: "Mein Zimmer ist so klein: Wenn da die Sonne rein kommt, muss ich raus gehen." Mieter haben kaum Rechte: Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält keine Vorschriften, die sie schützen. Vermieter hingegen haben bei der Festsetzung der Miete freie Hand. Der Zentralverband der Haus- und Grundeigentümer hat bereits vor der Jahrhundertwende einen Mietvertrag in Umlauf gebracht, der die Mietverhältnisse weitgehend bestimmt.

1914 werden sogenannte Mieteinigungsämter eingerichtet, die bei Streitigkeiten zwischen Vermieter und Mieter vermitteln sollen. Die kommunalen Einrichtungen entscheiden jedoch oft derart willkürlich, dass sie schnell in die Kritik geraten. Mehrere Mieterschutzverordnungen sollen die Situation entschärfen. Nach dem Ersten Weltkrieg zieht die Politik schließlich die Notbremse. Angesichts von Arbeitslosigkeit und Inflation sollen die Menschen nicht auch noch ihre Bleibe verlieren. Am 1. Juni 1923 wird das erste Mieterschutzgesetz verkündet. Zum ersten Mal wird das Wohnrecht als schützenswert anerkannt. Zugleich wird es dem Vermieter erheblich erschwert, den Vertrag zu kündigen.

Knapper Wohnraum nach dem Zweiten Weltkrieg

Das neue Gesetz überlässt die Entscheidung über die Zulässigkeit von Kündigungen nicht mehr den Mieteinigungsämtern, sondern überträgt sie an ordentliche Gerichte. Anerkannte Gründe für die Aufhebung eines Mietvertrages durch den Vermieter sind unter anderem erhebliche Belästigungen durch den Mieter und Zahlungsrückstände ab zwei Monatsmieten.

Eigentlich hätte das Gesetz nur vorübergehend gelten sollen. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg ist es noch immer in Kraft und der Wohnraum knapp. 1949 fehlen angesichts zerbombter Städte und Millionen von Flüchtlingen rund sechs Millionen Unterkünfte. Deshalb bleibt der gesetzliche Mieterschutz in der gewohnten Form weiter erhalten.

Lücke-Plan sorgt für Kündigungen

Während des sogenannten Wirtschaftswunders vollzieht der damalige Wohnungsbauminister Paul Lücke (CDU) 1960 jedoch eine Kehrtwende: "Der Wohnungsbestand, vor allem der Althausbesitz, soll schrittweise in die Marktwirtschaft überführt werden." Das Mieterschutzgesetz müsse daher umgestaltet und "den veränderten sozialen Verhältnissen angepasst werden". Gegen heftigen Widerstand wird nun die Preisbindung für Altbauwohnungen schrittweise abgeschafft. Zudem ermöglicht der sogenannte Lücke-Plan auch wieder grundlose Kündigungen.

Es folgt eine regelrechte Kündigungswelle. Innerhalb von nur zehn Jahren verdoppeln sich die Mietpreise. Anfang der 1970er Jahre wird die Entscheidung von Lücke wieder rückgängig gemacht. "Es bestand über alle Fraktionen Einigkeit, dass hier das Mietrecht zugunsten der Mieter wieder eingeführt werden muss", sagt Siegmund Chychla vom Deutschen Mieterbund. Bis auf kleine Änderungen gelte dieses Kündigungsschutzrecht bis heute.

Stand: 01.06.2013

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