In den Industriestaaten liefern sich Anfang des 20. Jahrhunderts Wissenschaftler und Unternehmen einen Wettlauf um Patente, Märkte und Monopole. So suchen Chemiker unter Hochdruck nach einem synthetischen Material, das teure Rohstoffe ersetzen kann und nicht über deren Nachteile verfügt. Zelluloid etwa schmilzt und brennt viel zu leicht; Schellack ist zur Massenproduktion ungeeignet, da man für nur ein Kilogramm 300.000 Lackschildläuse braucht.
Ein belgischer Chemiker arbeitet in den USA an der Lösung eines Problems beim Stromtransport, denn durch mangelhafte Isolierungen geht viel elektrische Energie verloren. Leo Hendrik Baekeland forscht nach einem künstlichen Isoliermaterial, das beständiger als Holz, leichter als Eisen und haltbarer als Gummi ist. 1905 gelingt es Baekeland als Erstem, aus Phenol und Formaldehyd ein vollsynthetisches, duroplastisches Harz herzustellen, das die gewünschten Eigenschaften aufweist. Als "Bakelit" wird es bald die weltweite industrielle Produktion von Gegenständen aller Art revolutionieren.
Mit Fotopapier zum Millionär
Baekeland, der 1863 in Gent als Sohn eines Flickschusters zur Welt kam, hatte dank städtischer Unterstützung studieren können. Mit 21 Jahren promoviert er summa cum laude und wird mit einem Reisestipendium belohnt, das ihn an sein Ziel, die Columbia University in New York führt. Dort erfindet der Chemiker das Velox-Papier, mit dem Foto-Negative statt bei Sonnenlicht viel schneller bei Kunstlicht entwickeln werden können. George Eastman, Chef des Foto-Giganten Kodak, reagiert sofort. 1899 kauft er dem Belgier das Velox-Patent für die ungeheure Summe von einer Million Dollar ab. Baekeland darf dafür zwar 20 Jahre lang keine Fotochemikalien mehr entwickeln, ist aber nun als 36-Jähriger völlig unabhängig.
Mit dem Geld kauft Baekeland ein Anwesen bei New York, richtet sich ein Labor ein – und drückt noch einmal die Schulbank. An der Technischen Hochschule in Berlin studiert er 1900 ein Semester lang Elektrotechnik. Zurück in den USA entwickelt der Chemiker zahlreiche neue Produktionsprozesse, darunter auch das berühmte Hitze- und Druckverfahren zur Herstellung von Bakelit, das er am 14. Juli 1907 zum Patent anmeldet. Nachdem er seine Erfindung in etlichen Patentprozessen verteidigt hat, verwendet er 1909 in Veröffentlichungen erstmals den Begriff "Bakelite". Seine Berichte lassen auch die Chefs des Berliner Chemiewerks Rütgers aufhorchen.
Bakelit-Zentrum Sauerland
Rütgers erwirbt die Rechte für Europa und gründet 1910 mit Baekeland in Berlin-Erkner die "Bakelite Gesellschaft mbh". Dort nimmt die weltweite kommerzielle Herstellung duroplastischer Kunststoffe ihren Anfang. Während Baekeland nun in den USA die "General Bakelite Company" gründet, laufen die Maschinen in Erkner auf Hochtouren. In ihren Form-Pressen entsteht aus dem harten, unschmelzbaren und unlöslichen "Stoff der tausend Dinge" so ziemlich alles, was das Industrie-Zeitalter dringend benötigt: Steckdosen und Drehschalter, Topfgriffe und Telefone bis hin zu Gehäusen für Elektrogeräte jeder Art. Leo Hendrik Baekeland bleibt bis 1939 Präsident seines US-Unternehmens und stirbt 1944 in New York.
In Westdeutschland entwickelt sich in den 1930er Jahren das Sauerland zum Zentrum der Kunststoff-Herstellung. So bringt unter anderem die Produktion von Volksempfängern und Zünderbüchsen Wohlstand in die Region. Ulrich Finke vom Bakelit-Museum in Kierspe erinnert sich noch heute, wie die 36 Fabriken allein in seiner Heimatstadt seine Jugend geprägt haben: "Der ganze Ort roch nach Bakelit." Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Produktion nach Iserlohn verlegt. Die dortige Bakelite AG besteht als Tochter eines US-Konzerns noch immer, obwohl weiches Thermoplast, volkstümlich Plastik, dem starren und dunkelfarbigen Bakelit längst den Rang abgelaufen hat.
Stand: 14.07.2012
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