Stichtag

20. Dezember 2001 - Argentiniens Wirtschaft bricht zusammen

Argentinien, kurz vor Weihnachten 2001: Im zweitgrößten Land Südamerikas ziehen aufgebrachte Menschen durch die Straßen und protestieren gegen die Sparpolitik der Regierung. Sie trommeln gegen verbarrikadierte Türen von Banken und fordern die Herausgabe ihrer Ersparnisse. Es kommt zu Streiks und Straßenblockaden. Supermärkte werden geplündert. Bei Straßenschlachten gibt es Verletzte. Daraufhin erklärt Präsident Fernando de la Rúa den Ausnahmezustand: "Was zählt sind nicht die Menschen, es geht um Staat und Institutionen!"

Das ist zu viel: Tausende ziehen in der Hauptstadt Buenos Aires in Richtung Präsidentenpalast. Sie schlagen auf Kochtöpfe und Pfannen: "Alle sollen abhauen!" Am 20. Dezember 2001 flieht de la Rúa per Hubschrauber vom Dach des Präsidentenpalastes. Berittene Polizei schießt in die noch feiernde Menschenmenge. Es gibt mehr als 20 Tote, Hunderte von Verletzten. Die Proteste gehen weiter. Bis zum Jahreswechsel geben sich fünf Präsidenten die Klinke in die Hand.

Neoliberales Experiment

Argentinien ist bankrott. Mehr als die Hälfte der Einwohner rutscht in die Armut ab, die Arbeitslosigkeit erreicht Rekordwerte, die Landeswährung Peso verliert zwei Drittel ihres Wertes. Die Vorgeschichte: Im März 1976 etabliert sich in Argentinien eine Militärdiktatur, in der schätzungsweise 30.000 Menschen "verschwinden". Repression und Propaganda sind teuer, die Diktatoren brauchen Geld. Kredite sind damals günstig zu haben, denn die erste Ölkrise hat die Finanzmärkte mit Petrodollars überschwemmt. Gleichzeitig wird die Wirtschaftspolitik nach den Rezepten des Internationalen Währungsfonds (IWF) liberalisiert: weniger Staat, freier Handel. Zur Belohnung gibt es IWF-Kredite - und die Auslandsverschuldung steigt weiter.

Nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 hat Argentinien nicht einmal mehr Geld, um die Zinsschulden zu zahlen. Neue Kredite werden aufgenommen, neue Sparprogramme müssen eingehalten werden. Die Inflation explodiert. Das neoliberale Experiment am La Plata nähert sich seinem Höhepunkt: "Folgt mir in die Erste Welt, ich werde euch nicht enttäuschen!", ruft Peronist Carlos Menem, der 1989 Präsident wird, seinen Wählern zu. Sein Wirtschaftsminister wird Domingo Cavallo, letzter Zentralbankchef der Junta. Der Peso wird an den US-Dollar gebunden: ein Peso entspricht einem Dollar. Das beendet zwar die Inflation, aber der Peso ist völlig überbewertet. Argentinische Waren werden auf dem Weltmarkt teurer, was zur Folge hat, dass zahlreiche Firmen im Land schließen müssen. Gleichzeitig verkauft Menem die profitablen Staatsunternehmen: Öl, Gas, Telekommunikation, Fernstraßen, Eisenbahn, Luftfahrt, Wasserkraft.

IWF-Chef Köhler dreht Geldhahn zu

Das Geld aus den Verkäufen ist allerdings schnell weg: "Statt Investition und Produktion gab es Finanzspekulation und immer mehr Schulden", erinnert sich der argentinische Journalist Jorge Lanata. "Korruption und Kapitalflucht waren atemberaubend." Argentinien bekommt weitere IWF-Kredite. Im Gegenzug verpflichtet sich die Regierung, ihren strikten Sparkurs fortzusetzen. Doch dann dreht der damalige IWF-Chef Horst Köhler Anfang Dezember 2001 Argentinien den Geldhahn zu: Das Land kann das vorgegebene Haushaltsziel nicht einhalten. Die Nachricht führt zu einem massiven Vertrauensverlust: Die Argentinier protestieren immer heftiger gegen ihre Regierung, die nun die Bargeldabhebung für Kontoinhaber bei Banken beschränkt.

Am 1. Januar 2002 erklärt der neue Präsident Eduardo Duhalde den Staatsbankrott, stellt die Zahlungen an die Gläubiger ein und hebt die Peso-Dollar-Bindung auf. Alle Banken werden wieder geöffnet. Die Staatsschulden betragen inzwischen mehr als 100 Milliarden Dollar. Der 2003 gewählte Präsident Néstor Kirchner erwirkt nach zähen Verhandlungen einen Schuldennachlass. Gleichzeitig erholt sich die Wirtschaft durch den Anstieg der Weltmarktpreise für Soja, Weizen und Rindfleisch.

Stand: 20.12.2011

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