Stichtag

19. Oktober 2004 - Vor 60 Jahren: Aufstellung der ersten Kamikaze-Einheit in Japan

Es ist ein sonniger Oktobermorgen im Herbst 1944, als die Kanoniere auf dem US-Flugzeugträger "Santee" japanische Flieger am Horizont entdecken. Eine Maschine hält mit Vollgas direkt auf die "Santee" zu. Der japanische Pilot kracht mit seinem Flugzeug mitten in das Schiff. Mit dem Todesflieger sterben 16 Amerikaner. Mechaniker Bill Simmons ist stundenlang bewusstlos: "Wir dachten, wir hätten den Krieg so gut wie gewonnen. Ich glaube, die Japaner hätten sich nichts ausdenken können, was uns Marinesoldaten mehr demoralisiert hätte als die Kamikaze-Flieger."

Kamikaze bedeutet "Götterwind". Dieses Wort wird bereits im 13. Jahrhundert geprägt, als ein Taifun vor Japans Küste die mongolische Flotte vernichtet und so das Land vor einer Invasion bewahrt. Im Zweiten Weltkrieg soll Japan erneut von einem "Götterwind" gerettet werden. Die japanischen Militärs stellen am 19. Oktober 1944 ihre ersten Kamikaze-Einheiten auf. Vier Tage zuvor hat der japanische Admiral Arima ohne Befehl das Vorbild dafür geliefert. Er hat sich mit seinem Kampfbomber als lebende Bombe auf den amerikanischen Flugzeugträger "Franklin" gestürzt. Die Selbstmord-Einheiten sind ein letztes Aufbäumen gegen die weit überlegenen US-Amerikaner. Im Sommer 1944 ist Japans Militärkabinett am Ende und tritt zurück. Doch statt den verlorenen Krieg zu beenden, greifen die nachrückenden Militärs zum letzten Mittel.

"So habe ich mich von der Welt verabschiedet"

Japans Wochenschau stilisiert die Kamikaze zur Wunderwaffe. Sie zeigt Todes-Piloten, die in die Kamera lachen, und Kinder, die sich das Flieger-Kopftuch mit dem Sonnensymbol umbinden. Angeblich melden sich die Piloten freiwillig. Den Ausschlag geben aber Erziehung, Gruppenzwang und der Druck der Vorgesetzten. Auch Pilot Kensuke Kunuki hat keine Wahl: "Als ich abfliegen musste, wurde mir klar, dass ich meine Heimat wohl zum letzten Mal sah. Da kam mir die Erde so liebenswert vor, dass ich barfuss gehen und mein Gesicht noch einmal an die Gräser drücken wollte. Aber das konnte ich vor den anderen nicht machen. Es schien mir unmännlich. Also habe ich in die Hände gespuckt und den Boden berührt. So habe ich mich von der Welt verabschiedet."

Jeder Start der Kamikaze-Flieger wird zur Propaganda-Show. So genannte Blumenmädchen verabschieden die Flieger in Nagasaki, Osaka, Jokohama und Tokio.

Die Kamikaze stürzen sich in Rudeln von bis zu 350 Maschinen auf die amerikanischen Flottenverbände. Die Entscheidungsschlacht beginnt im April 1945 - um die erste große japanische Insel, die von den USA angegriffen wird. Eine mörderische Schlacht: Fast 5.000 US-Marines sterben. Bis Kriegsende versenken die Selbstmord-Flieger insgesamt 36 alliierte Schiffe und beschädigen zehn Mal so viele. Die japanische Führung lässt sogar Jugendliche los fliegen, die erst 30 Flugstunden hinter sich haben - mit Treibstoff nur für den Hinflug. Die Rückkehr ist verboten, wie Pilot Kenietschiä Onoki später erzählt: "Herr Kommandant, eine Frage habe ich: Wenn es mir gelingt, ein Schiff zu versenken und trotzdem zu überleben, darf ich dann zurück kommen? Da sagte der Kommandant: Nein, das ist nicht erlaubt!" Die Piloten Onoki und Kunuki sowie einige Hundert andere überleben nur, weil ihre Maschinen abgeschossen werden oder sie auf kleinen Inseln landen können.

Mindestens 2.200 junge Japaner sterben bei den Selbstmord-Einsätzen. Am 15. August 1945 bittet der Kommandeur des Kamikaze-Korps, Admiral Kakijivo, die Familien der geopferten Piloten um Vergebung und tötet sich selbst.

Stand: 19.10.04