Stichtag

27. Juni 1971 - Krimi-Reihe "Polizeiruf 110" beginnt im DDR-Fernsehen

Auf dem VIII. Parteitag der SED beklagt Erich Honecker "Langeweile im Fernsehen": Man müsse den Erwartungen der Werktätigen entgegenkommen und für mehr Spannung und Unterhaltung im Fernsehen sorgen, sagt der eben gewählte Erste Sekretär der SED. Wenige Wochen später läuft die erste Folge der neuen Krimi-Reihe "Polizeiruf 110" im DDR-Fernsehen: "Der Fall Lisa Murnau". Buch und Regie: Helmut Krätzig. Erstsendung: 27. Juni 1971. Delikt: Postraub mit schwerer Körperverletzung.

Verbrecher gibt es auch im Sozialismus

Mord, Überfälle und Kindesentführungen gibt es in der DDR, allerdings ist Kriminalität im Sozialismus ein Tabu. Im "Polizeiruf 110" tauchen die Verbrecher erstmals zur besten Sendezeit auf: der Bauarbeiter, der Zement klaut; ein Handwerker, der dem Alkohol verfällt; ein Mann, der nachts in Wohnungen einbricht und Frauen vergewaltigt. Bei Stoffentwicklung und Abnahme sitzen die Genossen der Hauptabteilung "Kriminalpolizei" aus dem Ministerium des Inneren mit den Dramaturgen am Tisch. Bei der Auswahl der Delikte berücksichtigt die Redaktion die offizielle Kriminalstatistik der DDR: Für das Jahr 1982 verzeichnet sie 143 Fälle von vorsätzlicher Tötung, 10.840 Fälle von vorsätzlicher Körperverletzung, 988 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern und 21.629 Fälle von Diebstahl sozialistischen Eigentums. Die Mitglieder der "Zentralen Fahndungsgruppe der Volkspolizei" rund um den väterlichen Oberleutnant Peter Fuchs (gespielt von Peter Borgelt) klären die verschiedenen kleinen und großen Verbrechen in der ganzen DDR auf – und kümmern sich neben Tötungsverbrechen auch um Einbrüche, Alkoholmissbrauch und die Verkehrserziehung an den Grundschulen.

Zuschauerquoten zwischen 40 und 70 Prozent

Die Ermittler sind korrekt, gesetzestreu und selten gönnen ihnen die Drehbuchschreiber ein Privatleben: keine Familie, keine erotischen Abenteuer, keine Zigaretten, kaum Alkohol. Die Täter dagegen dürfen widersprüchlich sein, Figuren mit Ecken und Kanten, Menschen aus Fleisch und Blut. Und obwohl Titel wie "Der Einzelgänger", "Schuldig" oder "Konzert für einen Außenseiter" suggerieren, dass sie abseits der Gesellschaft stehen, sprechen gerade sie aus, was viele DDR-Bürger denken. Gerade weil die Täterrollen so interessant sind, werden sie von den bekanntesten Schauspielern des Landes gespielt: Henry Hübchen, Dieter Mann, Jenny Gröllmann, Ulrich Mühe oder Uwe Kockisch. Der "Polizeiruf" gehört zu den erfolgreichsten Produktionen des DDR-Fernsehens: Bis1991 werden 153 Folgen gesendet, die Zuschauerbeteiligung in der DDR liegt zwischen 40 und 70 Prozent. Gedreht wird auf 35 Millimeter-Film; besonders gelungene Folgen laufen in Bulgarien, Rumänien oder in der Sowjetunion im Kino. Auch die ARD zeigt viele "Polizeiruf"-Folgen in ihren dritten Programmen, wo sie fast so gern gesehen werden wie die "Tatort"-Wiederholungen. Als einzige DDR-Sendung läuft die Reihe auch nach der Wiedervereinigung erfolgreich weiter: 1993 nehmen neue Männer und Frauen in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Bayern die Ermittlungen auf – und sind mittlerweile fast ausschließlich mit Mordfällen konfrontiert.

Stand: 27.06.2011

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