"Ich werde den Reichskanzler aufsuchen, weil ich glaube, dass Gespräche zwischen ihm und mir nützlich sein können", erklärt der britische Premierminister Arthur Neville Chamberlain am Morgen des 15. Septembers 1938 auf dem Londoner Flughafen Heston. "Mein Grundsatz war schon immer das Bemühen um Frieden." Der Reichskanzler heißt Adolf Hitler und droht schon seit längerem der Tschechoslowakei mit Krieg. Der tschechische Staat, der nach dem Zerfall der Habsburger Donau-Monarchie 1919 gegründet wurde, muss laut des Vertrages von Versailles allen Minderheiten im Land gleiche Rechte zugestehen - auch den rund drei Millionen Sudetendeutschen. Die deutsche Propaganda behauptet allerdings, die "sudetendeutschen Brüder" würden unterdrückt und misshandelt. Tatsächlich aber brauchen die Nazis das Sudetenland für ihren geplanten Vormarsch nach Osten - nach dem bereits im März 1938 erfolgten "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich.
Politik des Appeasement
Chamberlains Krisengespräch mit Hitler beginnt am Abend des 15. Septembers 1938 auf dem Obersalzberg. Er kehrt ohne konkretes Ergebnis Ergebnis nach London zurück. Eine Woche später fliegt Chamberlain ein zweites Mal über den Ärmelkanal. Mit seiner Politik des Appeasement, der Beschwichtigung, will er Hitler das Sudetenland zugestehen - wenn der Diktator dafür zusichert, keine weitere Gebietsansprüche zu stellen. Chamberlain befürchtet eine Kettenreaktion: Würde Hitler die Tschechoslowakei überfallen, träte für Frankreich der Bündnisfall ein und dadurch wäre auch Großbritannien betroffen. Chamberlain ist aber nicht bereit, eines kleinen Landes wegen einen erneuten Krieg zu riskieren. Er glaubt, Hitler auf diese Weise in Schach halten zu können.
Ende September 1938 besucht Chamberlain Deutschland zum dritten und letzten Mal. Gemeinsam mit Hitler und dem faschistischen Staatschef Italiens, Benito Mussolini, unterzeichnen er und Frankreichs Premier Edouard Daladier das sogenannte Münchner Abkommen: Hitler darf sich das Sudentenland nehmen, wenn er den Rest der Tschechoslowakei in Ruhe lässt. Ein halbes Jahr tut er das auch. Doch dann marschieren im März 1939 deutsche Truppen bis nach Prag, die Tschechoslowakei hört auf zu existieren. Chamberlains Strategie ist gescheitert.
Von Hitler an der Nase herumgeführt
Die Nazis verspotten Chamberlain, als einen, der sich von Hitler hat an der Nase herumführen lassen. Der Historiker Hermann Graml vom Institut für Zeitgeschichte widerspricht: "Chamberlain war kein schwacher Politiker." Er habe mit Zähigkeit in Großbritannien eine weiche Politik gegenüber Deutschland durchgesetzt.
Entwickelt hat der am 18. März 1869 in Edgbaston bei Birmingham geborene Chamberlain seine Ausdauer auf den Bahamas. Als junger Mann schuftet er dort sieben Jahre lang auf einer Sisal-Plantage seines Vaters. Mit 28 Jahren kehrt Chamberlain nach England zurück, wo ihm die Familie einen Direktorenposten in einer Metallfabrik besorgt. Ab 1914 engagiert er sich in der Politik. Er wird Ratsmitglied in Birmingham und 1915, wie schon sein Vater, Oberbürgermeister. Drei Jahre später zieht er als Abgeordneter der Konservativen ins britische Unterhaus ein. Später hat er Kabinettsposten als Post-, Gesundheits- und Finanzminister. Im Mai 1937 wird er Premier. Seine schwerste politische Niederlage ist wohl der 3. September 1939: Zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen erklärt Chamberlain Deutschland den Krieg. Seine Politik ist gescheitert. Im Mai 1940 tritt er wegen militärischer Misserfolge der Briten zurück. Am 9. November 1940 stirbt Chamberlain im Alter von 71 Jahren in Heckfield bei Reading an Darmkrebs.
Stand: 09.11.10