In der Nacht zum 4. August 1914 überschreiten deutsche Truppen die Grenze zu Belgien. Damit beginnt für das neutrale Königreich der Grand Guerre (Großer Krieg), wie der Erste Weltkrieg von den Belgiern später bezeichnet wird. Deutschland marschiert mit einer Million Mann ein - wohl wissend, dass es damit das Völkerrecht bricht. Ziel ist ein Angriff auf Frankreich, den alten Erbfeind. Bereits 1905 hat Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen den Plan entwickelt: Die deutschen Truppen sollen schnell durch Belgien vorrücken, bevor die Franzosen ihr Truppen nach Norden verlegt haben. Doch entgegen den Erwartungen der deutschen Kriegsplaner leistet die kleine belgische Armee heftigen Widerstand. Die deutschen Verluste sind hoch. Bald kursieren Gerüchte, auch belgische Zivilisten würden als Partisanen aus Hinterhalten schießen. Die Deutschen setzen deshalb ganze Ortschaften in Brand und töten ihre Bewohner.
Doch die angeblich belgischen Kugeln kommen aus den Gewehrläufen der eigenen Kameraden. Die deutschen Truppen rücken oft so schnell vor, dass sie sich gegenseitig beschießen, sagt der irische Historiker Alan Kramer von der Universität von Dublin. "Das nennt man heute Friendly Fire, freundliches Feuer: Unerfahrene Truppen, die in Panik aufeinander schießen, besonders in kritischen Situationen." Für die nun folgenden Exzesse macht Kramer die Ausbildung der Soldaten verantwortlich. Sie basiert auf Erfahrungen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Damals gab es tatsächlich Freischärler, die sogenannten Franktireurs. "Man könnte von einer regelrechten Franktireur-Psychose sprechen, die sich", so Kramer, "unter den deutschen Truppen ausbreitete." Als die Deutschen beim Einmarsch unter Beschuss geraten, sind die Schuldigen daher schnell gefunden. Selbst Kinder werden bezichtigt, verletzte Soldaten verstümmelt zu haben. Gerüchte von abgeschnittenen Ohren, Fingern und Genitalien machen die Runde. Kaiser Wilhelm behauptet, die Bevölkerung Belgiens habe sich "geradezu teuflisch, um nicht zu sagen viehisch benommen". Die deutsche Presse liefert angebliche Beispiele: "Ein elfjähriges Mädchen hat einen im Haus schlafenden Soldaten mit Stricknadeln beide Augen ausgestochen."
Mit solchen Gruselgeschichten rechtfertigt die deutsche Armee ihre Kriegsverbrechen. Am schlimmsten wüten die Deutschen in Lüttich, Löwen und Dinant. Rund 5.500 belgische Zivilisten sterben in den ersten zehn Wochen des Krieges. Keiner ist ein Franktireur: "Wir haben das sehr eingehend untersucht", sagt Kramer. "Es gibt in zwei oder drei Fällen die Möglichkeit, dass einige belgische Bauern vielleicht mit der Schrotflinte los gegangen sind - die Quellenlage ist äußerst dünn." Alle Untersuchungen hätten ergeben, "dass da kein realer Hintergrund dahinter steckt." Groß ist die internationale Empörung, als die Massaker bekannt werden. Doch das tun die Deutschen als alliierte Kriegspropaganda ab. Auch nach dem Ersten Weltkrieg behauptet Admiral Alfred von Tirpitz: "Dem Staat Belgien ist durch sein Verhalten Recht geschehen und nicht Unrecht." Lange halten die Deutschen an der Version fest, sie hätten lediglich Vergeltung für Angriffe aus dem Hinterhalt geübt. Erst im August 2000 entschuldigt sich der deutsche Staat. Der Staatssekretär des Bundesverteidigungsministeriums, Walter Kolbow, sagt in Belgien: "Ich möchte Sie alle bitten, das von Deutschen in Ihrem Lande damals begangene Unrecht zu vergeben."
Stand: 04.08.09