Ein müder Geselle stiefelt am 22. November 1959 um 18:55 Uhr durch die romantisch verschneite Fernsehkulisse einer deutschen Kleinstadt. Mit Schlafmütze und Stoffsack bewaffnet, hat er den Auftrag, Sand in Kinderaugen zu streuen - und schläft am Ende an einer Häuserecke selber ein. Prompt bieten ihm gleich mehrere Kinder in Briefen ihr Bettchen an, Großmütter wollen wärmere Kleidung stricken. Die DDR-Sendung "Unser Sandmännchen" ist ein überwältigender Erfolg.Der Erstausstrahlung ist ein Kampf ums Kinderzimmer vorangegangen, der nur mit den Gesetzen des Kalten Krieges zu erklären ist. In der DDR erfährt Fernseh-Programmchef Walter Heynowski Anfang November 1959 von den Plänen des Senders Freies Berlin (SFB) zu einer täglichen Gute-Nacht-Sendung mit einer Sandmännchenfigur, die in der Vorweihnachtszeit starten soll. Sofort vermutet Heynowski, dass der Feindsender die Ost-Kindersendung "Abendgruß" torpedieren wolle: "Die gegnerische Absicht, uns Zuschauer abzunehmen, darf nicht unterschätzt werden."
Im Westen sind die ersten Folgen des Sandmännchens mit einer simplen Kasperlepuppe bereits abgedreht. Für Heynowski besteht also höchster Handlungsbedarf. Als Schnellschuss entwickelt Gerhard Behrendt für den Deutschen Fernsehfunk (DFF) der DDR deshalb in nur drei Wochen ein Sandmännchen-Pendant mit Spitzbart und Zipfelmütze, dessen Abenteuer bereits im aufwendigen Stop-Motion-Verfahren gedreht werden. Der DFF gewinnt das Wettrennen der Systeme: Zwei Wochen vor seinem Konkurrenten vom SFB kann "Unser Sandmännchen" auf Sendung gehen. Von dem Schock wird sich der Westen nicht mehr erholen: Das Ost-Sandmännchen, mit jüngerem Gesicht als die West-Variante, läuft dem Konkurrenten stetig den Rang ab. Da hilft es auch nicht, dass der Norddeutsche Rundfunk (NDR) die Figur 1962 rundumerneuert.Als wohl einziger einfacher DDR-Bürger genießt das Sandmännchen fortan vollkommene Reisefreiheit. Nicht nur in die offiziellen DDR-Urlaubsländer Ungarn und ČSSR oder zu den vom Westen boykottierten Olympischen Spielen in Moskau (1980) darf es fahren, sondern auch nach Japan, Lappland oder Afrika. Exportiert wird die Serie in den Jemen, nach Sri Lanka und Mauritius, in die Mongolei und nach Vietnam. 1966 bietet sogar der WDR 120.000 D-Mark für eine Dreijahreslizenz. Aber die Verantwortlichen beim Deutschen Fernsehfunk fürchten, dass DDR-Kinder ihr Sandmännchen lieber im Westfernsehen schauen könnten. Das Angebot wird abgelehnt.
Nach der Wiedervereinigung entstehen Gerüchte, dass das Ost-Sandmännchen mit dem Deutschen Fernsehfunk abgewickelt werden soll. Resolutionen und Proteste sind die Folge, Eltern fürchten eine Traumatisierung ihrer Kinder. "Ich bin für meinen Sohn hier, um zu dokumentieren, dass für ihn der Sandmann das Notwendigste ist, damit er schön einschlafen kann", spricht ein Mann bei einer Demonstration den Reportern ins Mikrofon. Es droht eine Gegenrevolution, die sie sich im Westen nicht hätten träumen lassen.Letztlich muss also das West-Sandmännchen in Rente, dem aktuellen Traumsandstreuer wird in Potsdam-Babelsberg Leben eingehaucht. Heute bringt "Unser Sandmännchen" jeden Tag, unter anderem auf dem Kinderkanal (Ki.Ka) um 18:55 Uhr, über eine Million deutsche Kinder ins Bett.
Stand: 22.11.09