Seit Wochen kreuzen zwei englische Kaperschiffe auf der Suche nach lukrativer Beute im Südpazifik. Als den Piraten das Trinkwasser ausgeht, befiehlt Kapitän Woodes Rogers, in einer Bucht der Insel Mas a Tierra zu ankern, knapp 700 Kilometer vor der Küste Chiles. Weil auf dem unbewohnten Eiland ein Feuer brennt, schickt der Freibeuter-Kapitän am 2. Februar 1709 ein Erkundungsboot aus. "Wenig später kehrte unsere Jolle vom Land zurück", berichtet Rogers später. "Sie führten eine Unmenge Krebse mit sich und dazu einen Mann, in Ziegenfell gekleidet, der wilder aussah, als die, die die Felle zuerst auf dem Leib hatten." Der verwahrloste Fremde gibt sich als Alexander Selkirk zu erkennen. Vier Jahre und vier Monate hat der schottische Seemann allein auf dem winzigen Flecken Land überlebt. Seine glückliche Rettung wird der Journalist Daniel Defoe zehn Jahre später zum Roman "Robinson Crusoe" verarbeiten - mit einigen wesentlichen Unterschieden: Selkirk fristet sein Dasein ohne einen Gefährten namens Freitag. Vor allem aber ist er kein Schiffbrüchiger wie Robinson, sondern hat sich aus freien Stücken auf Mas a Tierra aussetzen lassen.
Wegen seines cholerischen Wesens liegt Alexander Selkirk schon als Jugendlicher mit der Obrigkeit über Kreuz. Mit neunzehn Jahren macht sich der 1676 im schottischen Lower Largo geborene Gerbersohn aus dem Staub und sucht das Abenteuer auf hoher See. Als er im September 1703 an Bord der "Cinque Ports" auf Kaperfahrt geht, gilt er bereits als erfahrener Navigator. Nach zwölf zermürbend erfolglosen Monaten läuft die "Cinque Ports" ein Inselchen im Juan-Fernandez-Archipel an. Der hölzerne Schiffsrumpf ist völlig von Bohrwürmern zernagt. Selkirk will die Schäden beheben lassen, doch Kapitän Stradling befiehlt die sofortige Weiterreise. Als Selkirk der Mannschaft zur Befehlsverweigerung rät, weil das Schiff zum Untergang verdammt sei, kommt es zum offenen Streit zwischen dem Kapitän und seinem aufbrausenden Steuermann. Den vermeintlich sicheren Tod vor Augen, bleibt Alexander Selkirk lieber auf der einsamen Insel zurück, anstatt mit dem wurmstichigen Schiff weiterzusegeln. Stradling lässt dem Meuterer zum Überleben etwas Kleidung und Bettzeug, dazu eine Flinte, ein Messer, Tabak, einen Kessel, eine Bibel sowie Bücher und seine nautischen Instrumente. Dann verschwindet die "Cinque Ports" am Horizont, aber Selkirk hat die richtige Wahl getroffen: Kurz darauf geht das marode Piratenschiff tatsächlich mit Mann und Maus unter.
Nach seiner Rettung durch Woodes Rogers bleibt Alexander Selkirk das Glück treu. Die Seeräuber entern eine spanische Galeone, deren Laderäume mit Gold und Gewürzen gefüllt sind. Im Oktober 1711 kehrt Selkirk als reicher Mann nach Largo zurück. Doch die Jahre der Einsamkeit haben tiefe Spuren hinterlassen. Einem bürgerlichen Leben völlig entfremdet, flieht der Seemann vor den Menschen und richtet sich auf dem Grundstück seines Vaters eine Höhle ein. Zutiefst unzufrieden erfasst ihn wieder die überwunden geglaubte Aggressivität. Als Selkirk im Suff beinahe einen Totschlag begeht, flüchtet er nach London, heiratet in kurzer Folge zwei Frauen und rettet sich als verfolgter Bigamist erneut aufs Meer. Nach wilden Jahren als Pirat und Piratenjäger stirbt Alexander Selkirk im Dezember 1721 vor der afrikanischen Westküste an Gelbfieber. Ob er je vom Erfolg des Romans "Robinson Crusoe" erfahren hat, ist unbekannt. Seine Insel wird inzwischen von rund 600 Menschen bewohnt und heißt seit 1966 offiziell "Isla Robinson Crusoe".
Stand: 01.02.09