Louis Braille ist erst drei Jahre alt, als ein Unglück seinem Leben eine schicksalhafte Wende gibt. Der am 4. Januar 1809 in Coupvrais bei Paris geborene Sohn eines Sattlers verletzt sich beim Spielen in Vaters Werkstatt mit einer Ahle am Auge. Das Sehorgan entzündet sich, infiziert auch noch das gesunde Auge, und nach wenigen Monaten ist der Junge völlig erblindet. Doch Louis erweist sich als überaus intelligentes Kind, will unbedingt lesen und schreiben lernen. Er besucht zunächst die Volksschule und darf 1819 auf die Blindenschule in Paris wechseln. Damit hat Louis noch Glück im Unglück, denn erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts sind überall in Europa und den USA Lehranstalten für Blinde entstanden. Zuvor galten Menschen ohne Sehvermögen schlicht als "nicht bildungsfähig". Allerdings hat sich bis zu Louis' Einschulung noch keine allgemein gültige und alltagstaugliche Blindenschrift durchsetzen können.
In Paris etwa favorisiert man die so genannte Hochschrift, bei der aus verschiedenen Materialien Druckbuchstaben tastbar gemacht werden. In Deutschland und Österreich wird die Stachelschrift genutzt. Dabei erzeugen mit Nadeln besetzte Buchstabentypen, auf der Rückseite eines Blattes eingedrückt, auf der Vorderseite gepunktete Buchstabenlinien. Doch alle verwendeten Schriften haben eines gemeinsam: Sie können unmöglich fließend gelesen werden. Die Buchstaben sind zu groß und die so hergestellten Bücher geraten zu dicken, sperrigen Folianten. Erst der junge Louis Braille, schon bald bester Schüler der Pariser Blindenanstalt, erfindet eine praktikable und bis ins Computerzeitalter weiter entwickelbare Schreibtechnik: die Brailleschrift. Als Basis dient dem Elfjährigen die "Nachtschrift" von Charles Barbier. Damit Soldaten auch bei völliger Dunkelheit Befehle lesen können, hat der Artillerieoffizier eine Punktschrift erdacht, die mit Hilfe von Rillenlinealen und einem spitzen Griffel ins Papier eingedrückt wird. Die Barbier-Nachtschrift ist jedoch eine Lautschrift, kennt keine Orthografie und jeder der aus zwölf Punkten bestehenden Buchstaben ist viel zu groß für eine Fingerkuppe.
Louis Braille erfindet dagegen ein Kodierungssystem, das mit nur sechs Punkten je Buchstabe auskommt. Damit wird jedes Zeichen so klein, dass es schnell mit einer Fingerkuppe ertastet werden kann. Brailles Mitschüler sind begeistert. 1825 stellt der inzwischen 16-Jährige seine Schrift öffentlich vor; drei Jahre später lässt er eine auf seinem Punktsystem basierende Notenschrift folgen. Doch die sehenden Blindenlehrer blockieren seine epochale Erfindung. Sie fürchten, diese Schrift könne wie eine Geheimkommunikation wirken und blinde Menschen erst recht gesellschaftlich isolieren. Obwohl Louis Braille seine Schrift immer weiter verfeinert, viele Bücher transkribiert und zahllose Vorträge hält, darf er den großen Durchbruch seiner Erfindung nicht mehr erleben. Erst 1850 übernimmt die Pariser Blindenschule die Brailleschrift, in Deutschland dauert es noch fast 50 Jahre länger. Braille, seit langem tuberkulosekrank, stirbt am 6. Januar 1852 mit nur 43 Jahren. Ein Jahrhundert später ehrt ihn Frankreich mit einer Beisetzung im Pariser Pantheon.
Stand: 04.01.09