Am 9. November 1989 nestelt SED-Funktionär Günter Schabowski in einem Papierstapel. Der Sprecher des ZK-Politbüros der DDR hat Journalisten aus aller Welt zu einer Pressekonferenz geladen. Es dauert eine Weile, bis er den richtigen Zettel gefunden hat, dann kratzt er sich am Kopf, setzt seine Lesebrille auf und beginnt möglichst unaufgeregt zu lesen. Privatreisen ins Ausland für DDR-Bürger würden "ohne Vorliegen von Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen" möglich sein, steht auf dem Zettel.
Im Raum herrscht Schweigen. Dann fragt ein italienischer Reporter nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens. Seines Wissens, gibt ein verunsicherter Schabowski an, gelte die Regelung "sofort" und "unverzüglich". Die Worte werden live im DDR-Fernsehen übertragen und später in den Nachrichten der Ost- und Westsender wiederholt. Unverzüglich stürmen die DDR-Bürger zur Grenze. Der Anfang vom Ende der Deutschen Demokratischen Republik ist besiegelt.So plötzlich und überraschend, wie viele Reporter, Politiker und spätere Geschichtsbücher meinen, ist die Ankündigung der Reisefreiheit aber nicht. Bereits am 29. Oktober hat Günter Schabowski DDR-Kirchenvertreter und den regierenden Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper (SPD) zu einem Mittagessen ins ostdeutsche Palasthotel geladen. Dort verkündet er den Anwesenden, dass die SED-Führung ein Reisegesetz plane, dass seinen Namen auch wirklich verdiene. Schon im Vorfeld des Treffens haben Vertreter beider Regierungen inoffiziell, vorbei an einem Teil des Staatsapparats und den Alliierten, über den Punkt gesprochen.Zwei Tage nach dem Mittagessen wird in West-Berlin über die Einsetzung einer "Projektgruppe zur Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und aus der DDR" beraten. Mit rund 500.000 Besuchern rechnet man von offizieller Seite. Momper denkt daran, einen Brief an alle Berliner zu schreiben, damit die Besucher aus dem Osten freundlich empfangen werden. Am 6. November schreibt er an Bundeskanzler Helmut Kohl, um ihn über die Vorkommnisse zu informieren: "Es ist davon auszugehen, dass nahezu alle Einwohner der DDR bald reisen können". Die sensationelle Nachricht bleibt auf dem Dienstweg stecken. Helmut Kohl erreicht sie nicht.
Eigentlich soll die Reiseregelung erst am 10. November offiziell verlesen werden, als Umsetzungstermin ist der Dezember im Gespräch. Aber jetzt ist es zu spät: Mit seiner Ankündigung sofortiger Reisefreiheit hat Günter Schabowski dem Lauf der Geschichte vorgegriffen. Die Meldung verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Tausende strömen zur Berliner Mauer, zu Fuß oder per Trabbi – und stoßen auf unvorbereitete Grenzsoldaten. Um 20:30 Uhr geben die Beamten am Übergang "Waltersdorfer Chaussee" der Masse nach, später öffnet sich der Schlagbaum an der Bornholmer Straße. Nach 28 Jahren Mauer sind die Grenzen zwischen Ost und West wieder offen. Statt der erwarteten 500.000 Menschen kommen am ersten Wochenende zwei Millionen in den Westen.
Stand: 09.11.09