Stichtag

25. Februar 2009 - Vor 15 Jahren: Christos Reichstagsverhüllung wird genehmigt

Für Christo und Jeanne-Claude beginnt es 1971 mit einer Postkarte aus Berlin. Ein amerikanischer Freund hat sie geschrieben, auf der Rückseite ist der Reichstag zu sehen. Vorne steht der entscheidende Satz: "Wie wär's, wenn Ihr den mal verpacken würdet?". Seitdem lässt die Idee das Künstlerpaar nicht mehr los. Christo zeichnet Entwürfe, bastelt Modelle, hält Vorträge über den "Wrapped Reichstag". Beide tingeln zu Politikern, um sie von ihrem Vorhaben zu überzeugen.


Der erste Christo-Fan wird Rita Süssmuth (CDU). Die Bundestagspräsidentin bringt den Verpackungskünstler in Kontakt mit ihren Parteifreund Helmut Kohl. Aber der Bundeskanzler ist strikt gegen die Idee. Derweil wendet sich Christo anderen Projekten zu, umrahmt Mini-Inseln vor der Küste von Florida mit pinkfarbenem Plastik, verwickelt die Besucher von Pont Neuf  in Paris in einen Traum aus champagnerfarbenem Tuch, spannt in Japan und Kalifornien Tausende von Schirmen auf. Seinen "Wrapped Reichstag" behält er dabei stets im Blick.

Dann lässt sich Kohl, sichtlich genervt von der Hartnäckigkeit des Künstlerpaars, zu einer Abstimmung im Bundestag überreden. "Sie werden nie eine Mehrheit kriegen", prophezeit er Süssmuth, als am 25. Februar 1994 die Abgeordneten zusammenkommen. Inzwischen ist der Reichstag längst vom Symbol der Trennung zum Symbol der Einheit geworden, in ein paar Jahren soll das deutsche Parlament hier einziehen.
Auf diese geschichtliche Bedeutung zielt der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ab, als er gegen Christos Pläne redet. Er habe Respekt vor dem Werk des Künstlers, hebt Schäuble an, aber ein Experiment mit dem Symbol der Wiedervereinigung könne er nicht akzeptieren. Zu viele Deutsche, betont Schäuble, würden die Verhüllung des "steinernen Zeugnisses deutschen Schicksals" nicht verstehen können. Während der Rede hantiert Kohl demonstrativ mit seiner Nein-Karte herum.

Aber Schäubles national-pathetischer Tonfall verfehlt seine Wirkung. War die Mehrheit der Abgeordneten zunächst noch gegen das Projekt, kippt nun die Stimmung. Der fraktionslose Abgeordnete Ulrich Brief etwa betont nüchtern, dass den meisten Deutschen der Reichstag gleichgültig sei. Und der Freidemokrat Manfred Richter bemerkt ironisch, wie Schäuble denn zu der "Verhüllung" des Reichstags stünde, wenn im kommenden Jahr Bautrupps das steinerne Symbol deutschen Schicksals zwecks Umbaus mit einem Baugerüst umstellen und ebenfalls "mit Planen verhängen" würden. Der "Wrapped Reichstag" wird mit 295 zu 226 Stimmen angenommen. Nur zehn Abgeordnete enthalten sich.
1995 ist der Reichstag zwei Wochen lang mit einer 100.000 Quadratmeter großen, silbrig glänzenden Stoffbahn aus Spezialgewebe umhüllt. Fünf Millionen Besucher wollen das Spektakel sehen. Die Kosten von 15 Millionen Dollar tragen Christo und Jeanne-Claude  allein. Da sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages durch ihre denkwürdige Diskussion längst selbst ein Teil des Kunstwerks geworden.

Stand: 25.02.09