Die "Hai Hong" ist das, was man einen Seelenverkäufer nennt. Ein durchgerosteter Frachter, auf dessen Deck seit Wochen fast 3.000 Vietnamesen in qualvoller Enge einer ungewissen Zukunft entgegenfahren. Sie alle haben ein Vermögen für diese Schiffspassage bezahlt, umgerechnet rund 5.000 Dollar. Geflohen sind sie vor dem kommunistischen Regime, das seit Ende des Vietnamkriegs 1975 ihre Heimat beherrscht - aus Furcht vor Enteignung, Arbeitslagern und Folter. Im November 1978 dümpelt die "Hai Hong" ziellos vor der malayischen Küste. Trinkwasser- und Essensvorräte sind kaum noch vorhanden. Trotzdem ist kein Land Südostasiens bereit, die ausgemergelten Flüchtlinge aufzunehmen. Die Bilder dieser humanitären Katastrophe gehen um die Welt; auch in Deutschland erschüttert das Schicksal derBoat Peopleviele Menschen. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht ergreift als einziger deutscher Politiker die Initiative.
Unbürokratisch organisiert der Hannoveraner Regierungschef binnen weniger Tage zusammen mit dem Auswärtigen Amt und der Bundeswehr die Aufnahme von rund 1.000 Vietnamesen in seinem Bundesland. Nachdem mehrere Boeing 707 der Bundeswehr in Begleitung von Minister Wilfried Hasselmann in Malaysia gelandet sind, drängen die örtlichen Behörden auf eine schnelle Abwicklung der Rettungsaktion. Nach der Devise "Wer vorne steht, kommt mit" dürfen 1.018 Menschen von der "Hai Hong" herunterklettern. Sie werden mit Marinebooten an Land gebracht, in Omnibussen zum Flughafen gefahren und dort sofort in die Bundeswehrflieger verfrachtet. "Es war ein ganz trauriges Bild", schildert Hasselmann später die Stimmung an Bord. Ausgehungert, verängstigt und still hocken die Flüchtlinge im Flugzeug, das sie in ein fernes unbekanntes Land bringt. Erst als die Boeing 707 abhebt, entlädt sich die Anspannung der Flüchtlinge in Applaus; Tränen strömen. 14 Stunden später, am frühen Morgen des 3. Dezember 1978, landet die erste Boeing mit 123 Vietnamesen an Bord auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen.
Eingehüllt in Decken des Roten Kreuzes machen die völlig übermüdeten Boat People Bekanntschaft mit dem nasskalten deutschen Dezemberwetter. In der Flughafenhalle serviert man ihnen an weiß gedeckten Tischen Suppe, Tee und Obst. Die 72 Kinder bekommen Kekse, Milch und Studentenfutter. Nicht wenige Flüchtlinge müssen ins Krankenhaus, denn Hunger und Durst sowie Verbrennungen durch Sonne und Salzwasser haben deutliche Spuren hinterlassen. Für die übrigen geht es weiter ins Auffanglager Friedland. Dank ihrer großen Anpassungsfähigkeit gelingt es den vietnamesischen Neubürgern rasch, sich ein neues Leben in Göttingen, Hildesheim oder in Ostfriesland aufzubauen. Ein Jahr nach Ankunft der ersten tausend Boat People in Hannover startet der Kölner Journalist Rupert Neudeck die Rettungsfahrten mit dem Frachter Cap Anamur. Bis 1986 kann das "Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V." mehr als 10.000 Flüchtlinge aus ihrer Not im Chinesischen Meer befreien und nach Deutschland bringen.
Stand: 03.12.08