"Wenn ich Ihnen erzähle, dass ich in einem Arbeitslager im Winter bei 30 Grad Frost eine Gehirnoperation mit den Instrumenten gemacht habe, die ich mir von der Schreinerei und der Schlosserei geborgt habe, dann werden Sie verstehen, was das bedeutet: mit kümmerlichsten Mitteln improvisieren." Der Arzt Ottmar Kohler schildert seine Erlebnisse nach elf Jahren russischer Kriegsgefangenschaft. Er kommt Silvester 1953 nach Deutschland zurück und wird am Kölner Bahnhof von Kanzler Konrad Adenauer ( CDU ) begrüßt. Sein Ruf als aufopferungsvoller Arzt ist Kohler vorausgeeilt. Er hat von November 1942 bis zur deutschen Kapitulation im Februar 1943 als Chirurg im umkämpften Stalingrad operiert und anschließend während seiner Gefangenschaft. Auch Romanautor Heinz Günther Konsalik hört Erzählungen über Kohler, kennt ihn aber nicht persönlich. Auf dieser Basis schreibt Konsalik sein Buch "Der Arzt von Stalingrad", das 1956 erscheint und vier Millionen Mal verkauft wird. Zwei Jahre später wird der Roman verfilmt. Die Hauptrolle darin spielt O.E. (Otto Eduard) Hasse.
Das Wort "Stalingrad" im Titel von Buch und Film führt in die Irre. Die Handlung spielt in einem Gefangenenlager, das irgendwo in Russland sein könnte. Die Gräuel des Russlandfeldzuges der Wehrmacht kommt nur in einem einzigen Satz vor: "Sie haben halb Russland kaputt gemacht und jetzt weinen Sie, weil Sie es wieder aufbauen müssen", lässt Konsalik eine schöne russische Ärztin sagen. Buch und Film sind nach Einschätzung des Heidelberger Geschichtsprofessors Wolfgang Eckart voller Klischees, die dem deutschen Zeitgeist der 50er Jahre entsprechen. Konsaliks Botschaft lautet demnach: Die Deutschen sind den Russen als Ärzte und Menschen überlegen. Das Bild des deutschen Mediziners soll ins rechte Licht gerückt werden. Denn der Nürnberger Ärzteprozess hat 1946 gezeigt, dass SS- und Wehrmachtsärzte an den Verbrechen der Nazis beteiligt waren. Als Reaktion darauf zeichnet "Der Arzt von Stalingrad" ein "karitatives, heldisches, aufopferndes" Bild des deutschen Arztes, sagt Medizinhistoriker Eckart. Dieses Arztbild knüpfe an das Arztbild an, das "die Nationalsozialisten in ihrer Propaganda bereits gestrickt hatten."
Viel ist über den am 19. Juni 1908 in Gummersbach geborenen Ottmar Kohler nicht bekannt. Er hat über seine Erfahrungen weitgehend geschwiegen. Im einzigen Tondokument erzählt er 1954 von seiner Gefangenschaft in den Lagern rund um Stalingrad: "Ich war ununterbrochen als Arzt eingesetzt und nur ein Jahr zur körperlichen Arbeit." Ein Held wie im Film ist Kohler nicht. Als er aus der Kriegsgefangenschaft kommt, muss er sich wie alle Spätheimkehrer in die deutsche Gesellschaft eingliedern. Sein Traum, Professor zu werden, erfüllt sich nicht. Er arbeitet als Chirurg an der Kölner Uniklinik und am städtischen Krankenhaus in Idar-Oberstein. Seine ehemaligen Kollegen sagen, der Ruhm, die Vorlage für einen Roman gewesen zu sein, habe wie ein unpassendes Etikett an ihm gehaftet. Ottmar Kohler stirbt am 27. Juli 1979 im Alter von 71 Jahren in Idar-Oberstein.
Stand: 19.06.08