1958 haben die (West-)Deutschen es geschafft: Hungerjahre und Trümmerzeit liegen hinter ihnen. Das "Wirtschaftswunder" bringt Vollbeschäftigung und macht sich auch bei der breiten Bevölkerung bemerkbar. Die Bundesrepublik ist nicht mehr Empfängerin von Care-Paketen. Die neue ökonomische Stärke bringt aber auch eine neue Verantwortung. Einer, der das früh deutlich ausspricht, ist der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings. In der Nachkriegszeit war sein Name verknüpft mit dem kirchlichen "Segen" für den Kohlenklau aus Not, seither "fringsen" genannt. Jetzt hält Frings bei der Bischofskonferenz in Fulda eine eindringliche Rede, in der er die Deutschen auffordert, sich der Not der Armen in den sogenannten Entwicklungsländern anzunehmen: "Was wir bisher über unsere eigene Not vergessen haben, tritt jetzt in die Mitte unseres Bewusstseins: In den meisten Ländern der Erde herrscht Hunger."
Die Katholiken sollen erstmals in der Fastenzeit Spenden für kirchliche Projekte gegen Hunger und Krankheit in der Dritten Welt sammeln. Das durch Frings initiierte Hilfswerk erhält den lateinischen Namen "Misereor", nach einem Jesus-Wort aus dem Neuen Testament: "Es erbarmt mich des Volkes". Dabei ist Frings' Initiative nicht nur aus Mitleid, sondern auch aus politischem Kalkül geboren. Das Ende des Kolonialismus zeichnet sich ab. Die afrikanischen Völker streben nach Unabhängigkeit - und das mitten im Kalten Krieg. "Die farbigen Völker sind erwacht", sagt Frings in Fulda am 19. August 1958: "Der Bolschewismus bietet sich ihnen als Bundesgenosse im Kampf um nationale Freiheit und wirtschaftlichen Aufschwung an." Die Hilfe der Katholiken soll also auch ein Mittel gegen den Einfluss der Sowjetunion in der Dritten Welt sein.
Kirchliche Entwicklungshilfe ist ein Trend der Zeit. Die Evangelische Kirche gründet im selben Jahr ihre Aktion "Brot für die Welt". Misereor erhält seinen Sitz in Aachen. Gleich die erste Sammlung bringt 35,4 Millionen Mark ein. "Eine große, schöne Summe, aber doch nur ein Tropfen auf den Stein gegenüber der ungeheuren Not", sagt Frings. Er gibt früh die Losung von der "Hilfe zur Selbsthilfe" aus. Misereor soll in erster Linie keine Katastrophenhilfe leisten, sondern die Lebensverhältnisse ändern - nachhaltig, wie man später sagt. Das ist das Programm der Geschäftsführung in Aachen bis heute. So liegt derzeit ein Schwerpunkt auf dem Aufbau von Genossenschaften und Gewerkschaften an der Basis, durch die sich Bauern, Handwerker und Arbeiter am internationalen Handel direkt beteiligen können. "Fair Trade", gerechter Handel, ist ein Hauptziel von Misereor.
In 50 Jahren hat das Hilfswerk 95.500 Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika aufgebaut und dafür fünf Milliarden und 560 Millionen Euro Spenden gesammelt. Hinzu kommt Unterstützung aus dem staatlichen Entwicklungshilfe-Etat. Für den derzeitigen Geschäftsführer, den Priester Josef Sayer, ist das immer noch ein Tropfen auf den Stein. "Was mich erschüttert und mit Zorn erfüllt, ist, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird", sagt Sayer. "Armut heißt nicht einfach, sich zu bescheiden. Da muss man auch kämpfen und die Armen organisieren."
Stand: 19.08.08