"Esser wie Messer." So stellt sich Günter Wallraff im März 1977 als freier Mitarbeiter in der Hannoverschen Redaktion der "Bild"-Zeitung vor. Wallraffs Markenzeichen: Er schleicht sich unter falschem Namen in Großunternehmen ein und schreibt Enthüllungsreportagen. Bei "Bild" erscheint er geschniegelt und gebräunt, mit viel Rasierwasser und antrainierter Überheblichkeit. Niemand schöpft Verdacht. Hautnah erlebt Wallraff als "Hans Esser" den Redaktionsalltag und notiert, wie "Bild"-Reporter ihre Gesprächspartner überrumpeln, um an rührselige Storys zu kommen; wie "Bild" CDU-Politiker hofiert und sich selbst als Anwalt des kleinen Mannes präsentiert; wie Geschichten zugespitzt und verfälscht werden. Bei "Bild" gehe es nicht um Aufklärung und Verständigung, sondern um "Desinformation, Verhetzung, Emotionalisierung", sagt Wallraff später.
Nach vier Monaten fliegt Wallraff auf. Am 22. Juli 1977 warnt ihn ein Freund telefonisch, dass ein Nachrichtenmagazin über seinen Undercover-Job berichten will. Wallraff bricht seine Arbeit ab und schreibt hastig seine Erlebnisse auf. Am 9. Oktober 1977 präsentiert er sein Buch "Der Aufmacher". Die Reaktionen sind geteilt. Während Kritiker meinen, so funktioniere Boulevard -Journalismus nun einmal, druckt der "Stern" Auszüge aus dem Buch. "Jetzt kann der Leser erfahren, wie Springers Massenblatt die Wahrheit verdreht", heißt es dort. Daraufhin lässt der Axel-Springer-Verlag Dutzende Passagen im "Aufmacher" verbieten. "Bild"-Reporter forschen Wallraffs Privatleben aus, diffamieren ihn als Psychopathen.
Genugtuung verschafft Wallraff 1981 der Bundesgerichtshof. Nach dessen Urteil bedient der Journalist mit seiner umstrittenen Recherche -Methode ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit. Das Gericht spricht mit Blick auf die "Bild"-Zeitung von "Fehlentwicklungen eines Journalismus, der noch Formen des Rechts in Anspruch nehmen mag, aber die Aufgaben der Presse und ihre Verantwortung aus dem Auge verloren hat." Später verbietet das Bundesverfassungsgericht zwar, wörtlich aus der "Bild"-Redaktionskonferenz zu zitieren. Doch auch bei Springer zeigt Wallraffs Buch Wirkung: "Die Redakteure wurden dramatisch vorsichtiger", sagt der spätere "Bild"-Chefredakteur Peter Bartels. Wallraff schreibt zwei weitere Anti-"Bild"-Bücher. Außerdem gründet er einen Rechtshilfe-Fonds für "Bild"-Geschädigte.
Stand: 09.10.07