Stichtag

01. Dezember 2006 - Vor 40 Jahren: Kurt Georg Kiesinger wird Bundeskanzler

Im Herbst 1966 scheitert die Regierungskoalition unter Kanzler Ludwig Erhard (CDU): Union und FDP können sich nicht einigen, wie sie das Finanzloch im Bundeshaushalt von knapp vier Milliarden Mark stopfen sollen. Dem Rücktritt Erhards gehen wochenlange Verhandlungen voraus. Ende November einigen sich Union und SPD auf die Bildung einer Großen Koalition. Zum ersten Mal wird in der Bundesrepublik am 1. Dezember 1966 ein Kanzler mit der Mehrheit der beiden größten Bundestagsfraktionen gewählt: Der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kurt Georg Kiesinger (CDU), bekommt 340 Stimmen. Das sind knapp 70 Prozent aller Abgeordneten. Dennoch ist sich Kiesinger bewusst: "Ich bin aus einer sehr krisenhaften und unbehaglichen Situation heraus auf den Sessel Konrad Adenauers und Ludwig Erhards gelangt."Die Wahl des neuen Bundeskanzlers sorgt für Kritik: Kiesinger war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP. Von 1940 an arbeitete er im Reichsaußenministerium und stieg dort drei Jahre später zum stellvertretenden Abteilungsleiter der Rundfunkabteilung auf. Kiesinger wirkte "an der Verbreitung antisemitischer Hetzpropaganda mit", wie der Historiker Philipp Gassert in seiner Kiesinger-Biographie schreibt. Kiesinger wird nach dem Zweiten Weltkrieg zwar von einem Spruchkammergericht entlastet. Seine Nazi-Vergangenheit holt ihn aber immer wieder ein. Bekannteste Szene: Beate Klarsfeld verpasst Kiesinger auf dem CDU-Parteitag im November 1968 in Berlin eine Ohrfeige und ruft: "Kiesinger, Nazi, abtreten!" Für Klarsfeld ist auch rückblickend klar: "Er war nicht nur NSDAP-Mitglied gewesen, sondern auch Verbindungsmann zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Propagandaministerium. Er hatte seine ganze Intelligenz in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt und wusste genau, was geschah - militärisch und in den Vernichtungslagern."

Auch SPD-Wirtschaftminister Karl Schiller war NSDAP-Mitglied

Als Bundeskanzler der Großen Koalition muss Kiesinger sein Kabinett zusammenhalten. Dort sitzen unterschiedliche politische Charaktere wie Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt (SPD), Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) sowie Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). Wie Kiesinger hat auch der Sozialdemokrat Schiller eine Nazi-Vergangenheit: Er war NSDAP-Mitglied und Vordenker der NS-Arbeitsmarktpolitik, wie der Historiker Gassert schreibt. Immer wieder gibt es interne Konflikte in der Koalition. Doch die Regierung steht vor wichtigen Aufgaben: Sie will den maroden Haushalt sanieren, die Staatsschulden abbauen und die Wirtschaft ankurbeln. Die Große Koalition schafft es, die meisten ihrer Ziele umzusetzen. Dazu zählen auch die umstrittenen Notstandsgesetze. Sie ermöglichen etwa den Einsatz der Bundeswehr bei Unruhen im Inneren und die Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses. Der Einfügung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz gehen bundesweite Proteste voraus. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) befürchtet, dass die Bundesrepublik autoritäre Züge annehmen könnte.

Die Große Koalition baut auch den Sozialstaat aus: "Es war eine Koalition der Sozialpolitiker", sagt Politik-Professor Karl-Rudolf Korte. "All das, was wir heute zurücknehmen wollen, ist von denen damals geschaffen worden." Dazu gehöre zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Außenpolitisch kann die Große Koalition keine besonderen Erfolge vorweisen. Sie pflegt vor allem Beziehungen zu den USA und Frankreich. Das Verhältnis zur DDR bleibt ein ungelöstes Problem. Kiesinger versucht, die Partnerschaft von Union und SPD zu managen, kann dabei aber kein eigenes Profil entwickeln. Die Bundestagswahl 1969 bringt für ihn eine herbe Niederlage. Die Union wird mit rund 46 Prozent zwar wieder stärkste Kraft, verfehlt aber knapp die absolute Mehrheit. Nach drei Jahren Kanzlerschaft ist Kiesinger gescheitert. Das Ende der Großen Koalition ist der Anfang der sozial-liberalen Koalition aus SPD und FDP: Willy Brandt wird Nachfolger von Kurt Georg Kiesinger.

Stand: 01.12.06