Noch drei Tage vor seinem Tod sitzt der 97jährige Chagall in seinem Atelier und malt. Zurückgezogen lebt und arbeitet er seit 36 Jahren in seiner Wahlheimat Saint-Paul-de-Vence bei Nizza. Chagall ist populärer denn je. Acht Jahre zuvor hat ihm der Louvre als zweitem lebenden Maler nach Picasso eine Einzelausstellung gewidmet. Das Publikum liebt seine farbenfrohen romantisch-naiven Fantasiewelten, die von traumwandlerischer Missachtung der Schwerkraft, verspielter Heiterkeit und stiller Melancholie geprägt sind. Dabei hat Chagall den seit der Jugend vertrauten Kosmos des russischen Schtetls nie verlassen. Durch alle Epochen spiegeln seine Gemälde, Lithografien und Kirchenfenster die Mystik der chassidischen Wurzeln in Russland.Elitäre Kunstkreise behandeln die lebende Legende deshalb nur noch als Exoten. Man kritisiert seinen Märchenerzähler-Stil als "süßlich" und seinen Motivreichtum als ausgeschöpft. In der Pop-Ära der Siebziger werden Chagalls Traumwelten voll fliegender Fiedler und schwebender Liebespaare zu Poster-Ikonen. Unzählige Lithografien machen Chagall allgegenwärtig. Bei seinen Kritikern trägt ihm das den Ruf eines Gebrauchskünstlers ein.
Seine ganze Jugend hat der 1887 geborene Sohn chassidischer Juden im Getto von Witebsk zugebracht. Das Schtetl und seine Menschen prägen Marc Chagall so sehr, dass er es ein Leben lang tausendfach in Zeichnungen, Aquarellen, Buchillustrationen und Bildern verklärt. Zum unerreichbaren Ort der kindlichen Unschuld, der Geborgenheit und des Abschieds. Chagalls Kunst ist eine ständige Suche nach der verlorenen Zeit. Sein Leben führt ihn als Polit-Kommissar nach Moskau, nach Paris in die vibrierende Welt der Kubisten-Avantgarde und auf Einladung des Museum of Modern Art nach New York. Überall fühlt Chagall sich heimisch, nimmt Einflüsse auf und entzieht sich doch jeder Strömung. Chagall bleibt immer Chagall – eine Kategorie für sich. Als er am 28. März 1985 stirbt, mag ihm kaum ein Nachruf seinen Platz im Olymp der ganz Großen verweigern.
Stand: 28.03.05