Es herrscht Eiszeit zwischen den beiden deutschen Staaten: Anfang 1960 gibt es zwischen der Bundesrepublik und der DDR keine diplomatischen Beziehungen. Die Regierungschefs beider Seiten - Konrad Adenauer und Walter Ulbricht - sprechen nicht miteinander, auch nicht über Boten, jedenfalls offiziell nicht. Deshalb bemüht Ulbricht am 23. Januar 1960 den Postboten, als er Adenauer ein Schreiben zukommen lässt. Der Brief ist ausreichend frankiert, der Absender angegeben. Trotzdem lässt das Bundeskanzleramt ihn ungeöffnet zurückgehen. Es betrachtet schon die Tatsache des Schreibens als Provokation.Eine Provokation sollte das Schreiben auch sein. Ulbricht macht umgehend aus dem ungeöffneten einen offenen Brief. Er präsentiert den Inhalt auf einer Pressekonferenz. Der Brief, der eigentlich keiner ist - denn er beginnt mit keiner Anrede und schließt auch mit keiner Grußformel - beschimpft zunächst den Bundeskanzler. Er habe eine "Separatwährung" geschaffen (die D-Mark), den "Westzonenstaat" in die Aufrüstung getrieben und die "westdeutsche Wehrmacht" aufgebaut. "Herr Adenauer betreibt eine Politik am Rande des Krieges", sagt Ulbricht in der Pressekonferenz.
Eigentlich ist also nicht Adenauer der Adressat des Briefes, sondern die westdeutsche Öffentlichkeit. Ulbricht bietet eine Volksabstimmung in beiden Teilen Deutschlands an: über Abrüstung, über einen Friedensvertrag und über eine Konföderation zwischen der DDR und der Bundesrepublik.
Zu Verhandlungen über all das kommt es nicht. Aber Ulbrichts Brief tritt im Westen eine Debatte über einen notwendigen Dialog mit der DDR los. Manche sehen in Ulbricht den besseren Anwalt der deutschen Einheit als in Adenauer und seiner Politik der Westbindung. Allerdings nicht lange: Schon im Februar 1960 übernimmt Ulbricht persönlich den Oberbefehl über die "Nationale Volksarmee" der DDR. Und im August 1961 lässt er in Berlin die Mauer bauen.
Stand: 23.01.05