Seine erste Berührung mit der "Coronation Street" verbindet Hans W. Geißendörfer mit einer Enttäuschung. Anfang der 80er Jahre ist der Regisseur per Anhalter zu seiner neuen Liebe nach London unterwegs. Endlich klingelt er voller Vorfreude an der Tür des Vorstadthäuschens. Aber statt der erwarteten Begrüßung nach der anstrengenden Reise habe es laut Geißendörfer erst einmal geheißen: "Setzt dich mal aufs Sofa. Es läuft 'Coronation Street'". Wie Millionen andere Briten, so will sich auch die neue Freundin die aktuelle Folge von "Corrie" durch nichts und niemanden nehmen lassen.
Wie lang die Londoner Liebe hält, ist nicht überliefert. Der Eindruck jedenfalls, den "Coronation Street" als Quotenbringer des Privatsenders ITV auf den Regisseur gemacht hat, scheint nachhaltig gewesen zu sein. 1985 läuft nach ihrem Vorbild die erste Folge von Geißendörfers "Lindenstraße" in der ARD.
Leben zwischen Shop und Pub
Als am 9. Dezember 1960 die erste Folge der "Coronation Street" aus dem fiktiven Industriestädtchen Wheatherfield über die Bildschirme flimmert, ist der Erfolg des neuen Formats in Großbritannien noch nicht abzusehen. "Wir sendeten live", wird sich Serienerfinder Tony Warren später erinnern. "Es war eine Aufregung und Spannung im Studio – fast als wäre da ein roter Samtvorhang und direkt dahinter das Publikum."
Von Anfang an spielt die Serie vor dem Hintergrund einer Straßenkulisse im Stil einer typischen Arbeitersiedlung aus dem Norden Englands. Alles beginnt damit, dass alte Bewohner in der ersten Folge im kleinen Eckladen auf neue Nachbarn treffen. Der "Corner-Shop" bleibt über Jahrzehnte ein zentraler Spielort – ebenso wie der Pub "The Rovers Return", der am anderen Ende der Coronation Street angesiedelt ist.
Ein Blick in den Spiegel
Im Laden, der Kneipe und in ihren eigenen Wohnungen durchleben die Bewohner Alltagsleid und Alltagsfreude, Herz und Schmerz, Wohl und Wehe, Dramen und Komödien: und werden so zur Identifikationsfläche vor allem für Englands Arbeiterschicht. Montags, mittwochs und freitags versammelt die Seifenoper so durchschnittlich zehn Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten, die im Grunde sich selbst beim Leben zuschauen. Heute ist die "Coronation Street"die älteste noch gesendete Soap der Welt.
Vom Glanz der Serie wollen auch Prominente profitieren. Sogar die eiserne Lady Maggie Thatcher lässt sich zu einem Auftritt erweichen. Und Cliff Richards erschrickt, als eine Straßenbewohnerin seine mollige Figur kommentiert. "Der Blick in den Spiegel zeigte mir: Ich hatte deutlich zugenommen. Da setzte ich mich sofort auf Diät", sagt der Sänger Jahre später. "Im Grunde verdanke ich der 'Coronation Street' meine heutige Figur."
Stand: 09.12.2015
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