Wenn gefährliche Viren auf dem Vormarsch sind, schlagen die Medien Alarm - allerdings nicht immer sachgerecht. "Manchmal wird zur falschen Zeit zu viel und zur richtigen Zeit zu wenig berichtet", sagt der Epidemiologe Ralf Reintjes, der zum Thema Risikokommunikation forscht. Zu Beginn, wenn gesicherte Fakten noch fehlten, sei das Medieninteresse besonders groß. Später jedoch würden die tatsächlichen Probleme nicht mehr genügend thematisiert.
An viele Risiken haben wir uns gewöhnt und nehmen sie kaum noch wahr. So sterben in Deutschland jedes Jahr über 3.000 Menschen im Straßenverkehr. In der breiten Öffentlichkeit sorgen aber andere Gefahren für Unruhe: Zu den Aufregern gehören in den letzten Jahren BSE, SARS, EHEC - und die Vogelgrippe, die Anfang Oktober 2005 Europa erreicht. In Rumänien und der Türkei gibt es den Verdacht, dass erkrankte Tiere mit dem Grippe-Erreger H5N1 infiziert sind. "Seit Mitte der 90er Jahre wissen wir davon, dass es diesen Virus gibt, jedoch ist die Übertragung von Tieren auf Menschen recht selten", sagt Epidemiologe Reintjes.
Bedrohliche Bilder aus Rügen
Zwar verbreitet sich der Influenza-Virus H5N1 von China aus durch Zugvögel und den Geflügelhandel weltweit. Aber die einzigen, die damals in Europa wirklich Anlass zur Sorge haben, sind die Geflügelhalter. Denn ihre geschäftliche Existenz steht bei einer Infektion ihrer Tiere auf dem Spiel.
Zu diesem Zeitpunkt hat Nordrhein-Westfalen bereits für mehr als 30 Millionen Euro Grippemedikamente eingelagert. 15 Prozent der Bevölkerung könnten damit behandelt werden. Im Februar 2006 ist es dann offenbar soweit: Die Vogelgrippe hat Deutschland erreicht, Spaziergänger finden auf Rügen tote Schwäne. Die Bilder wirken bedrohlich. In den Medien sind Bundeswehrsoldaten in Schutzanzügen und mit Atemmasken zu sehen, die am Rügendamm Seuchenmatten auslegen und die Autos desinfizieren.
In Deutschland wird niemand infiziert
Krisenstäbe werden eingerichtet und Katastrophenalarm ausgerufen. Experten sprechen von einer möglichen Pandemie. Eine Information geht dabei fast unter: "Das ist eine Tierseuche und es besteht keine Gefahr für Menschen, denn bisher sind nur Menschen infiziert worden, die sehr engen Kontakt mit infiziertem Geflügel haben", sagt die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Bis zum damaligen Zeitpunkt sind in Asien und der Türkei rund 100 Menschen an der Vogelgrippe gestorben, weil dort Menschen und Vögel näher zusammen leben. In Deutschland hingegen wird niemand infiziert. Das Thema verschwindet aus den Medien so schnell, wie es aufgetaucht ist.
Wird nicht mehr berichtet, heißt das allerdings nicht, dass auch keine Gefahr mehr besteht. Ein Beispiel dafür ist die Schweinegrippe, die vier Jahre später ebenfalls für eine kurze mediale Hysterie sorgt. Doch als die Epidemie schließlich richtig zuschlägt, findet sie keine Beachtung mehr. "Die allermeisten der über 200 Todesfälle in Deutschland sind eigentlich erst nach Beginn der Impf-Kampagne entstanden, wo eigentlich für den normalen Bundesbürger das Thema schon ad acta gelegt war", sagt Reintjes. Übrigens: An Krankenhauskeimen sterben in Deutschland pro Jahr schätzungsweise 15.000 Menschen. Das sind mehr als 30 Mal so viele wie an der Vogelgrippe weltweit seit 1996.
Stand: 09.10.2015
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