Stichtag

18. Juli 1870 - Papst verkündet das Dogma der Unfehlbarkeit

Eine gewaltige Gewitterfront zieht über Rom, als das 1. Vatikanische Konzil seinem Höhepunkt entgegensteuert. Mehr als 600 Bischöfe und Prälaten aus aller Welt werden entscheiden, wem das letzte Machtwort in der katholischen Kirche zusteht: Allein dem Papst, der als Nachfolger Petri von Jesus persönlich mit der Kirchenführung beauftragt wurde? Oder dem ökumenischen Konzil als Sprachrohr der Gesamtkirche?

Lange hat Pius IX. daraufhin gearbeitet, die geistliche und rechtliche Unfehlbarkeit des Papstes unverrückbar festzuschreiben. Seit seiner Wahl 1846 haben Revolutionen und Kriege, nationale und freiheitliche Bewegungen Europa radikal verändert. Die alten Ordnungen brechen zusammen, die Einigung Italiens schreitet voran, das Ende des Kirchenstaats und damit der weltlichen Papstmacht droht. Pius IX. reagiert darauf mit erzreaktionären Dogmen, Abschottung der Kirche nach außen und Zentralisierung der Macht im Innern.

"Die Tradition bin ich!"

Mit dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens erhebt Pius 1854 erstmals Anspruch auf die alleinige Deutungshoheit in Glaubensfragen. Sechs Jahre später, nach dem Anschluss an das neue Königreich Italien, hört der Kirchenstaat auf zu existieren. Nun sitzt der Pontifex in Rom fest, das er nur dank französischer Truppen noch verteidigen kann. Mit einer Verdammung der 80 "hauptsächlichen Irrtümer der Zeit" schlägt Pius zurück. Im berüchtigten "Syllabus Errorum" verdammt er Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Trennung von Staat und Kirche, Liberalismus, Presse- und Meinungsfreiheit als teuflische Ketzerei.

Mitte Juli 1870 berät das Vatikanische Konzil in Rom bereits ein halbes Jahr über die Machtverteilung in der Kirche. Die Mehrheit steht auf Seiten des Papstes, eine Minderheit von etwa 20 Prozent aber will das von Pius vorgelegte Dogma "Pastor Aeternus" (Ewiger Hirte) nicht hinnehmen. Die Oppositionellen werden von der päpstlichen Kamarilla unter Druck gesetzt, bespitzelt und von wichtigen Sitzungen ausgeschlossen. Einem ihrer Wortführer, Kurienkardinal Guidi, schleudert Pius entgegen: "La tradizione sono io!" – "Die Tradition bin ich!" Als der Tag der entscheidenden Abstimmung kommt, sind etliche Papstgegner bereits unter Protest aus Rom abgereist.

Plazet für die päpstliche Allmacht

Am Morgen des 18. Juli 1870 tobt erneut ein Sturm direkt über dem Vatikan. Während ein Prälat dem Konzil bei Blitz und Donner die Endfassung des Dogmas "Pastor Aeternus" vorträgt, zerbricht ein Fenster über dem Stuhl des Papstes und kracht zu Boden. Trotz des Omens geben anschließend 533 Teilnehmer durch Zuruf dem Dogma ihr "placet" – bei nur zwei Gegenstimmen. Pius IX. gilt damit als unfehlbar, wenn er "ex cathedra", also kraft seines Amtes über Glaubens- und Sittenfragen urteilt. Außerdem verleiht ihm das Dogma die Jurisdiktionsgewalt, also die absolute Befehlsgewalt innerhalb der katholischen Kirche.

Acht Wochen danach beordert Frankreich seine römischen Schutztruppen in den Krieg gegen Preußen. Königstreue Italiener erobern die Stadt im Handstreich, nehmen dem Papst seine letzte weltliche Macht und rufen Rom zur Hauptstadt Italiens aus. Völlig isoliert zieht sich Pius IX. hinter die Mauern des Vatikans zurück, den er bis zu seinem Tod 1878 nicht mehr verlässt. 122 Jahre später wird er gegen Proteste von Katholiken in aller Welt durch Johannes Paul II. seliggesprochen.  Aktuell wagt der 2013 gewählte Argentinier Franziskus erste Kritik am päpstlichen Allmachtanspruch: "Ich glaube nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige und vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss," erklärt Franziskus, der "fröhliche Fehlbare" (Der Spiegel) in seinem ersten päpstlichen Lehrschreiben.

Stand: 18.07.2015

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