Stichtag

25. Juni 2010 - BGH entscheidet über passive Sterbehilfe

Im Dezember 2007 liegt Erika Küllmer nach einer Hirnblutung schon seit fünf Jahren im Wachkoma. Ihr linker Arm wurde ihr nach spät bemerkten Brüchen amputiert, sie reagiert weder auf Ansprache noch auf Berührungen. Küllmer vegetiert in einem Pflegeheim, ernährt über eine Magensonde. Ein unzumutbarer Zustand für ihre Tochter, zumal sich ihre Mutter vor den Hirnblutungen deutlich gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen hat.

Doch die Geschäftsführung des Heims weigert sich, die künstliche Ernährung einzustellen - wegen strafrechtlicher Risiken. Schließlich rät der auf Medizinrecht spezialisierte Anwalt Wolfgang Putz der Tochter am 21. Dezember 2007, den Schlauch der Magensonde durchzuschneiden. Elke Gloor greift zur Schere."Ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass ich für meine Mutter das Richtige mache", sagt die Tochter hinterher. Als die Pfleger die fehlende Nahrungsversorgung entdecken, rufen sie die Polizei. Küllmer kommt ins Krankenhaus, wo sie Anfang Januar alleine stirbt. Elke Gloor darf ihre Mutter nicht mehr besuchen. Sie wird zusammen mit dem Anwalt angeklagt. Fortan streiten die Juristen über den viel beachteten Fall der Sterbehilfe.

Passive Sterbehilfe mit aktiven Momenten

In erster Instanz verurteilt das Landgericht Fulda den Anwalt wegen versuchten Totschlags zu einer Bewährungs- und Geldstrafe. Die Tochter wird freigesprochen. Doch das Urteil ist paradox: Die Richter werten das Legen einer Magensonde gegen den Willen des Patienten als Körperverletzung. Elke Gloor hat mit der Schere somit einen rechtswidrigen Zustand beendet. Putz fühlt sich zu Unrecht verurteilt, der Anwalt ist überzeugt, im Sinne des Gesetzes gehandelt zu haben. Außerdem hängt seine berufliche Existenz mit der Verurteilung am seidenen Faden.

Wo verläuft denn nun die Grenze zwischen verbotener aktiver und erlaubter passiver Sterbehilfe? Nicht nur Putz und Gloor wollen es genau wissen, sondern auch Angehörige, Palliativmediziner, Pflegeheime und Ethikräte. Sie wollen mehr rechtliche Klarheit im Umgang mit den Sterbenden. Der Fall geht zum Bundesgerichtshof (BGH) nach Karlsruhe. Die Richter sprechen Putz am 25. Juni 2010 frei. Er habe passive Sterbehilfe geleistet und somit nicht rechtswidrig gehandelt. Neu an dem Urteil ist, dass nun auch ein aktives Tun - wie ein Durchschneiden eines Schlauches - eine erlaubte passive Sterbehilfe sein kann.

Neues Sterbehilfe-Gesetz auf dem Weg

Die Karlsruher Richter stellen nun grundsätzlich klar, dass eine Maßnahme abgestellt werden kann, wenn es keine Aussicht auf Besserung des Gesundheitszustandes gibt und es dem ausdrücklichen Wunsch des Patienten entspricht. Trotzdem sind noch viele Fragen offen. Was ist, wenn der Patient sein Leiden aktiv beenden will und dazu Hilfe benötigt? Suizid ist erlaubt, ebenso die Beihilfe zum Selbstmord, doch Tötung auf Verlangen ist strafbar. Die Grenze zwischen erlaubt und verboten ist haarscharf, ebenso die Meinungen dazu.

Einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge befürworten 67 Prozent der Bevölkerung die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe nach dem Vorbild der Beneluxstaaten. Dort ist es rechtlich möglich, Sterbewilligen durch Verabreichen eines tödlichen Medikamentencocktails den Freitod zu ermöglichen. Undenkbar für andere. Sie fürchten, durch eine breiter gefasste gesetzliche Regelung könnte ein "sozialverträgliches Ableben" verordnet werden. Im Herbst 2015 könnte die Rechtslage klarer werden: Dann will der Deutsche Bundestag ein Sterbehilfe-Gesetz verabschieden.

Stand: 25.06.2015

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