August 1942. Die Ostfront im Zweiten Weltkrieg. Stalin hat verboten, die Bewohner aus der Stadt zu evakuieren, die seinen Namen trägt. Sie sollen beim Barrikadenbau helfen. Über eine halbe Million Zivilisten befinden sich noch in der Wolgametropole, als die deutsche Luftwaffe mit 600 Sturzkampfbombern in rund 2.000 Einsätzen ihren ersten verheerenden Angriff fliegt.
Schweigen in der Wochenschau
Operation Uranus. Innerhalb weniger Tage kreisen sowjetische Streitkräfte über 300.000 Soldaten der deutschen Wehrmacht sowie verbündeter Truppen aus Rumänien, Italien und Ungarn vollständig ein. Am 22. November 1942 ist der Kessel geschlossen.
In der Nazi-Wochenschau wird Stalingrad seit der Einkesselung mit keinem Wort mehr erwähnt. Dass die einst ruhmreiche 6. Armee eingekreist ist, wird erst Mitte Januar 1943 offiziell gemacht. Also ob die Bevölkerung es durch Feldpostbriefe nicht längst wüsste.
Warum ist Stalingrad in Deutschland zum Mythos geworden? Sönke Neitzel, Historiker an der Universität Potsdam, sagt: "Weil das, in einer Verdichtung, die schlimmste Kriegserfahrung war, die ein Wehrmachtssoldat machen konnte, an der Front. Gestorben wurde auch anderswo, kalt war es auch anderswo. Aber dieser Kessel, in Stalingrad hatten wir eben diesen Kessel - und vor allen Dingen den Hunger."
Hitler verbietet General Paulus, dem Oberbefehlshaber der 6. Armee, den Rückzug. Paulus‘ Truppen sollen ausharren, angeblich um sowjetische Kräfte zu binden, damit sich die sogenannte Heeresgruppe A ungehindert aus dem Kaukasus zurückziehen könne. Göring verspricht vollmundig, man werde die an der Wolga Eingeschlossenen aus der Luft versorgen. Wie das gehen soll über Feindesland, sagt er nicht. 900 Tonnen Munition, Treibstoff und Essen täglich bräuchten die Truppen. Tatsächlich kommen im Schnitt keine 100 Tonnen an. Paulus‘ Männer verhungern, wenn sie nicht bei 40 Grad minus erfrieren.
Als die 6. Armee Ende Januar/Anfang Februar 1943 endlich kapituliert, sind noch etwas mehr als 100.000 Soldaten am Leben. Sie gehen in die Gefangenschaft. 6.000 deutsche Stalingrad-Überlebende kehren schließlich zurück nach Deutschland.
Was der Opfermythos ausblendet
Der Opfermythos. Der Fokus auf das Leid des Landsers, der im Kessel elendig verreckt, blendet aus, wie er dorthin geraten ist, sprich: den historischen Kontext des Vernichtungsfeldzugs der deutschen Wehrmacht, ihre Beteiligung an den Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und die Ermordung der Juden in Ost- und Südeuropa.
Bis in die 1990er-Jahre hält sich das Narrativ von der sauberen Wehrmacht und vom ehrlichen, einfachen Soldaten - von Hitler und seinem System missbraucht, verkauft und verraten. Stalingrad wird im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zum Inbegriff soldatischer Extremerfahrung, vor allem aber: des Opfergangs der Armee. Der Historiker Sönke Neitzel: "Man hat einen Diskurs, der Geschichte so zurechtlegt, dass sie möglichst wenig schmerzt. Das ist das Nachkriegsnarrativ gewesen."
Auch die Sowjetunion hat ihren Stalingradmythos, auch hier gibt es bis heute, in Putins Russland, das Opfernarrativ. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Opfer der Rotarmisten wurden belohnt mit dem Sieg über den Faschismus.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Almut Finck
Redaktion: Matti Hesse
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. November 2022 an die Schlacht von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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