Lesefrüchte

"Juli, August, September" von Olga Grjasnowa

Stand: 20.09.2024, 13:40 Uhr

Die Mittdreißigerin Lou steckt in einer Ehekrise, sie hat ein Kind verloren und garstige Verwandte. Aber was hat das alles mit ihrer jüdisch-sowjetischen Herkunft zu tun?

Als Jüdin in Deutschland muss man auf einiges gefasst sein, Lou weiß das genauso gut wie ihre Erfinderin und Schwester im Geiste und in einigen biografischen Details Olga Grjasnowa. Aber damit hätte Lou nicht gerechnet: Als ihre fünfjährige Tochter Rosa zum ersten Mal bei einer Kindergartenfreundin übernachtet, lesen deren wohlmeinende Eltern den Kindern zum Einschlafen aus einem Anne-Frank-Comic vor. Rosa bricht in Tränen aus, glaubt, dass Hitler selbst das Buch geschrieben hat und fragt sich, wieso der etwas gegen Jungen hatte. Jungen, Juden - das kann man schon mal falsch verstehen als Fünfjährige.

So geht sie los, die Geschichte um die Kunstwissenschaftlerin Lou und ihre Familie, die Olga Grjasnowa in "Juli, August, September" erzählt. Und damit ist der Ton gesetzt: ebenso komisch wie ernst, vor allem aber: schnell, schlagfertig und unsentimental. Lou ist Mitte 30 und lebt mit ihrem Mann Sergej ein gediegen bürgerliches Leben in Berlin. Altbauwohnung, Weißwein, eine ukrainische Putzfrau. Sergej ist Konzertpianist und ein guter Vater. Wenn er mal da ist. Außerdem jederzeit im Bilde: Lous Mutter und die Schwiegermutter, zwei herrschsüchtige jüdische Mamas aus dem Bilderbuch. Schwiegermutter Ekaterina z.B. macht aus ihrer Ansicht keinen Hehl, dass Lou für ihren Sohn im Grunde nicht annähernd gut genug ist.

Lou spricht mit ihrer Tochter Rosa Russisch, weil sie nicht weiß, wie man ein Kind auf Deutsch lieben soll. Sie geht nie in die Synagoge, aber ihr war immer klar, dass sie einen Juden heiraten würde. Und wenn die Verwandten aus Israel fragen, wie sie so deutsch werden konnte, ist Lou beleidigt. Aber wer ist Lou dann? Wer ist Sergej? Und wer ist Rosa? Das alles sind Fragen, mit denen Lou schon lange zu kämpfen hat.

Ihre Biografie und ihre Familiengeschichte sind nun einmal wie sie sind. Die Großmutter floh als Kind vor dem Holocaust aus Weißrussland nach Baku. Hier wurden erst Lous Mutter geboren und dann auch Lou selbst. Als die Sowjetunion unterging emigrierte der größte Teil der Familie nach Israel, Lou und ihre Mutter aber gingen nach Deutschland. Lang, lang ist’s her.

Doch nun, in diesem Sommer, fliegt Lou alles um die Ohren: Ehe und Familie, Fragen der Identität, der Sinn des Lebens. Es kommt zu einem tumultartigen Familientreffen auf Gran Canaria. Und dann reist Lou nach Israel. Olga Grjasnowa wirft diese jüdische Familiengeschichte in schnellen Strichen und bitterbösen Dialogen hin.

Dabei gelingt ihr Erstaunliches: "Juli, August, September" ist ein nachdenkliches, gewitztes Buch über moderne jüdische Lebenswege und über Juden in Deutschland. Es ist aber auch ein hartes, unsentimentales Buch über Ehe, Familie und Partnerschaft im 21. Jahrhundert, dessen Protagonistin eben wie selbstverständlich eine Berliner Jüdin mit bewegter Biografie ist. Ein unerbittlich ehrliches, oft komisches Buch ist das. Und doch: bewegend. Ein Ereignis.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Olga Grjasnowa: Juli, August, September
Hanser Berlin, 2024
224 Seiten, 24 Euro