Dieser Moment im Jahr 2015 ist der Ausgangspunkt in Margarethe Adlers Roman "Die Stunde der Mauersegler". Die 20jährige Lou ist die jüngste Familienangehörige und hat noch nie etwas von diesem Verwandten gehört. Als besonders an Geschichte und Politik interessierte Journalistik-Studentin beginnt sie nun zu recherchieren. Sie möchte die Gründe für das beharrliche Schweigen von Urgroßeltern, Großeltern und Eltern in Erfahrung bringen. Und die sind vor allem in den Fluchtgeschichten von Lous Oma und Opa sowie ihrer Mutter Anke zu finden.
Insbesondere Uroma Elisabeth, damals überzeugtes SED-Mitglied und Anhängerin der DDR, war durch die Flucht ihres Bruders und ihrer Nachkommen in arge Bedrängnis geraten. Während auch die Geflohenen selbst noch nach vielen Jahren im Westen den langen Arm der Staatsicherheit spürten. Das Aufwachsen in einem Unrechtsstaat hatte sie ohnehin übervorsichtig, sogar argwöhnisch und eben schweigsam werden lassen.
Haben sich die Erfahrungen aus den Jahren der Diktatur inzwischen in der DNA verankert? Werden sie also vererbt? Eine Frage, mit der sich Margarethe Adlers Romanfiguren nach dem Knall auf der Familienfeier verstärkt beschäftigen. Vor allem Lou erweist sich als äußerst hartnäckig und empfindet sich manchmal selbst als übergriffig. Sie besucht auch Henning an seinem Wohnort in Rheinland-Pfalz. Irgendwann begreift Lou, die als einzige Protagonistin in einem freien Land geboren wurde und somit ohne DDR-Erfahrung ist, wie schwer es ihren Verwandten fällt, wirklich frei zu sein und frei zu handeln.
Deren nicht immer gute Erfahrungen als "Ossis" im wiedervereinigten Land werden dabei nicht verschwiegen. Wer aus dem Osten kommt, muss mit Nachteilen rechnen. In der Schule zum Beispiel oder bei der Arbeitssuche. Vieles führt dazu, dass sich Menschen wie Lous Mutter Anke (die doch bereits mit 14 Jahren in den Westen kam) auch mehr als 30 Jahre danach noch immer nicht wirklich zu Hause fühlen. Sie bleiben Pendler zwischen Ost und West. Anders ausgedrückt: Mauersegler.
35 Jahre nach dem Mauerfall war alles anders geworden, (…) "besser wollte kaum einer noch sagen, ohne ein Aber anzuschließen" heißt es in Margarethe Adlers Text. Und das scheint die gerade vorherrschende Stimmung in Ostdeutschland gut zu beschreiben. Wie konnte eine so viele Menschen glücklich und hoffnungsfroh machende Erfolgsgeschichte derart ins Gegenteil umschlagen? Warum haben bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen annähernd 50 Prozent extreme Parteien vom rechten und linken "Rand" gewählt? Gerade wir "Wessis" sollten uns endlich intensiver mit Ursachen dafür befassen. Die Sorgen und Nöte der Menschen im Osten verstehen und anerkennen. Margarethe Adler fordert uns dazu auf. Sie hat das Recht dazu.
1971 geboren ist die Berlinerin unweit der Mauer aufgewachsen. Die Hälfte ihrer Verwandtschaft lebte in der DDR. Den ostdeutschen Staat hat sie deshalb bis zu seinem Untergang oft besucht und später auch in der „Birthler-Behörde“ gearbeitet. Ihre Romanfiguren kommen uns Leserinnen und Lesern auf den knapp 350 Seiten recht nahe und wir können wohl für alle Verständnis aufbringen. Spannend ist es übrigens auch. Die Ausreise von Lous‘ Mutter Anke und ihren Eltern soll plötzlich in weniger als 15 Stunden über die Bühne gehen, während Sohn Christian zunächst in der DDR bleiben muss. Das hat Folgen. Anke findet später in der alten Ost-Berliner Wohnung noch eine Kiste mit verloren geglaubten Dingen aus der Kindheit wieder. Und gibt es am Ende eine Chance auf eine wahrhafte Kommunikation, vielleicht sogar auf Versöhnung innerhalb der durch die Teilung so geplagten Familie? Ganz besonders für jüngere Menschen ist der Roman empfehlenswert. In Ost und West. Damit das Geschehen vor 35 Jahren nicht vergessen wird und wir uns auf diesem Weg vielleicht doch noch ein Stückchen näher kommen.
Eine Rezension von Michael Reinartz
Literaturangaben:
Margarethe Adler: Die Stunde der Mauersegler
C. Bertelsmann, 2024
352 Seiten, 22 Euro