Marica Bodrožić über "Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere"

Stand: 14.12.2023, 13:22 Uhr

Brillant poetisch erzählt Marica Bodrožić in "Mystische Fauna", wie alles miteinander verbunden ist. Durch Begegnungen mit Tieren erkennt sie die Bedeutung der gemeinsamen "Sprache" und lernt Gewalterfahrungen im größeren Zusammenhang verstehen.

Mit den Eindrücken auf La Gomera fängt es an. Auf der Insel verbringt die Autorin viel Zeit, es ist ihre äußere Landschaft, und nun soll sie auf einen fremden Hund samt Haus aufpassen. Sie nennt ihn "Inselito".

In seinem Blick erkennt sie frühe traumatische Erlebnisse mit dem eigenen Hund wieder. Durch seine Art zu sein führt Inselito sie wie ein Lotse zu ihrer inneren Bildwelt in den verborgenen Schichten und beschert ihr Erkenntnisse, die ein Sehen aus neuer Perspektive ermöglichen.

Zu Beginn ihrer Überlegungen stellt die Autorin drei Fragen: Was ist Leben? Wie teilt es sich mit? Was macht mein Selbst darin aus? Das bedeutet, sich der Angst aus Kindertagen zu stellen. In ihrer frühen Heimat musste sie auf dem Hof ihres Großvaters im dalmatinischen Hinterland beim Schlachten helfen. Als Fünfjährige mit dem Lavabo für das Blut der Tiere auf der Türschwelle stehend sieht sie alles. Es ist ihr erstes Schwellenerlebnis.

Als Erwachsene auf der Insel begreift sie die frühen Eindrücke. Sie sieht die Schwelle als den Ort zentraler Erfahrung, als Bewusstseins-Ort: An der Schwelle bleibt die Zeit stehen, am Ort des Bleibens, Sehens und Fühlens – und das bedeutet Wissen. Und der Austausch mit den Tieren geschieht in Sprache, die nichts dafür haben will, dass wir durch sie mit den Tieren verbunden sind. Sie ist keine Sache des Habens, sondern fließend wie Identität!

Diese Denkbewegung wendet Marica Bodrožić auf ihre eigene Geschichte an und entwickelt eine besondere Bewusstseins-Perspektive: Vom Aufwachsen beim Großvater auf dem Hof der Kindheit mit den Tieren, der Übersiedlung mit neun Jahren zu den Eltern nach Hessen, wo sie erneut Gewalt erfährt – nun gegen sich, gegen den eigenen Körper gerichtet:

Als sich die Sechzehnjährige die langen Haare abschneiden lässt, rastet die Mutter völlig aus und verprügelt sie brutal wie einen Hund – bis hin zur Erfahrung, dass Nichtwissen auch ein Wissen ist, das tiefes Sehen und sphärisches Lernen ermöglicht und vielleicht eine Antwort geben kann auf die Frage: Wer bin ich jetzt?

Auch wenn deutlich wird, die Mutter hat als junge Frau selbst traumische Erfahrungen erlitten, durch Hunger und Not, weiß Marica Bodrožić: Gewalt befreit nicht davon! Beherzt erzählt sie von den Momenten eigener Schuld:

Der geliebte Großvater zwang sie, den Esel, der von seinem Weinlaub gefressen hatte, zur Schlucht zu führen, wo er das Tier hinabstürzte. Als Kind konnte sie sich dieser Lebensverletzung nicht widersetzen, und am liebsten wäre sie aus ihrer Gattung gesprungen.

"Mystische Fauna" zeigt berührende Erfahrungen und magische Umwelten, die Risse im Lebensgewebe und das sphärische Lernen und entwickelt mit Gedanken aus Literatur und Tier-Mythologien eine Argumentation aus der Bewusstseins-Perspektive des "Dazwischen" – jenem wunderbaren Raum für das Denken, der weit geöffnet ist für Erfahrungen im eigenen unverletzlichen Inneren.

Diese erhöhte Wahrnehmung oder das tiefere Sehen, ein nahezu spiritueller Blick, kann eine Metamorphose einleiten, die alle Lebewesen verbindet. Dieses Buch von der Liebe der Tiere schenkt herausfordernde Einsichten in hochpoetischer Sprache. Seine Denkbewegung lädt zum genauen Hinsehen ein und zum immer wieder darin Lesen.

Ein echtes Geschenk, nicht nur zu Weihnachten.

Marica Bodrozić über "Mystische Fauna" WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 16.12.2023 11:30 Min. Verfügbar bis 14.12.2024 WDR 5

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Literaturangaben:
Marica Bodrožić: Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere
Matthes & Seitz, 2023
165 Seiten, 20 Euro