Diese Texte zu lesen ist eine Herausforderung, denn sie haben einen existentiellen Erzählanlass: 1000 Tage tobt der russische Angriffskrieg mittlerweile in der Ukraine. "Die Schaufel ist eine der wichtigsten Waffen im Krieg", schrieb Jewhen Hulewytsch und "Im Garten der Schützengräben" nannte er auch seine Fotos – im Dezember 2022 ist er im Kampf um Bachmut gefallen. Und der Titel der 295. horen-Ausgabe "weil die Wunden Vögel werden" ist einem Gedicht des jungen Lyrikers Maksym Krywstow entnommen, der im Januar 2024 fiel.
Alle Autorinnen und Autoren sind persönlich vom Krieg betroffen. Einige traten freiwillig in die Streitkräfte ein, andere gehören paramedizinischen Einheiten an, die Verwundete an der Front retten, oder der Koordinationszentrale für die Behandlung von Kriegsgefangenen.
Was in der Lyrik mit poetischer Sprache abgemildert erscheint, zeigt sich in den Prosatexten, Berichten und Tagebüchern umso deutlicher. Einige Beispiele: Im allegorischen "Trugbild" wird der Erzähler von einem kleinen Jungen verfolgt, zu dem er schließlich Zuneigung fasst. Der Auszug aus dem historischen Roman "Die Tollkirsche" erzählt von der Verschleppung junger Menschen Anfang der 1940er Jahre zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Und die "Notizen aus der Belagerung" erschüttern mit Eindrücken aus Schutzräumen in Mariupol.
Doch der Schmerz lässt sich nicht zähmen, wo der Tod die Menschen täglich umgibt. Das Grauen steckt so tief wie das Gefühl von Machtlosigkeit, das in der postkolonialen Vereinnahmung der ukrainischen Sprache und Kultur zum Tragen kommt.
Beindruckend gibt dieser Band ungehörten Stimmen Raum. Keine leichte Lektüre, aber eine notwendige. Die große künstlerische Kraft des Widerstands, dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen hinterlässt mehr als ein Gefühl von Demut.
Eine Rezension von Bettina Hesse
Literaturangaben:
weil die Wunden Vögel werden. Landschaften der Ukraine
Zusammengestellt von Halyna Petrosaniak und Natalka Sniadanko Herausgegeben von Christof Hamann Reihe: die horen
Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik; Bd. 295, 69. Jahrgang
Wallstein Verlag, 208 Seiten, 40 z.T. farbige Abbildungen, 14 Euro