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"Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts"

Stand: 22.09.2023, 14:38 Uhr

Slowenien mag ein kleines Land sein, aber seine Dichtung ist groß. Das beweist diese Anthologie, die einen Einblick in den thematischen und formalen Reichtum moderner und zeitgenössischer Lyrik aus Slowenien bietet.

Unter dem Motto "Waben der Worte" präsentiert sich Slowenien 2023 als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Das kleine Land zwischen Alpen, Balkan und Italien hat nur rund zwei Millionen Einwohner, dennoch erscheinen in Slowenien jährliche 350 Gedichtbände. Kaum ein europäisches Land kann mit so einer Fülle an lyrischer Produktion aufwarten.

"Manchmal denke ich, ich werde verrückt, manchmal denke ich, es war alles vergeblich. Von Marx und Engels bis zum Kapital, den roten Sternen und Rudern", klagt Maruša Krese. Slowenien blickt auf eine leid- und wechselvolle Geschichte voller Umbrüche vom Partisanenkampf bis zum Balkankrieg zurück, die im kollektiven Innenleben eine große Rolle spielt.

Nur selten wird sie so humorvoll-ironisch aufgenommen wie im Gedicht "Das Testament des pensionierten Hauptmannes Anton Novak" von Boris A. Novak, in dem sich die wechselnde Zugehörigkeit des Landes in einer ganzen Reihe übereinander gespannter Herrscherporträts spiegelt, die der Hauptmann zurücklässt.

Für die Anthologie haben die Herausgeber um Aleš Šteger die Gedichte von 16 repräsentativen Dichterinnen und Dichtern des letzten Jahrhunderts chronologisch angeordnet und mit einer kurzen Biografie versehen. Die Bandbreite reicht vom Avantgardedichter Srečko Kosovel bis zur engagierten Dichtung Boris A. Novaks während des Bosnien-Krieges.

Dazwischen geschobene Kapitel ordnen die unterschiedlichsten Gedichte von rund 60 weiteren Stimmen zentralen Themengebieten wie "wasser&erde" oder "revolte&kampf" zu. So tritt nicht nur das hervor, was die Slowenen bewegt, sondern es werden poetische Verwandtschaften aber auch Gegenbewegungen deutlich. Neben der traumatischen Vergangenheit führt der Band auch in die Gegenwart.

Da Slowenien noch immer eines der am dichtesten bewaldeten Gebiete Europas ist, spielt das Verhältnis des Menschen zur Natur eine Rolle. Aber man muss sich nicht mit dem Camper an die Seen und Flüsse aufmachen, um einen tiefen Einblick in die Seele und Geschichte der Slowenen zu gewinnen.

Den liefert diese gekonnt zusammengestellte Anthologie. Dabei ist es besonders bereichernd, dass die Gedichte auch im Original abgedruckt sind; so können formaler Reichtum und die Übersetzerleistung leichter nachvollzogen werden.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts
Herausgegeben von Matthias Göritz, Amalija Maček, Aleš Šteger,
Hanser Verlag, 2023
312 Seiten, 36 Euro