Aktuelle Lyrik

"Lied vom Spaziergang. Gedichte aus Litauen" hrsg. von Rūta Eidukevičienė und Hans Thill

Stand: 10.05.2024, 17:06 Uhr

Der 35. Band der verdienstvollen Reihe "Poesie der Nachbarn" aus dem Wunderhorn Verlag hat die zeitgenössische Lyrik Litauens im Fokus. Gibt es im Osten was Neues?

Der südlichste der drei baltischen Staaten, eingeklemmt zwischen Ostsee und solch freundlichen Nachbarn wie Lukaschenko-Belarus und Putin-Russland hat eine rege Lyrikszene, die sich nach der Unabhängigkeit Litauens 1990 von diversen Traditionen und Einschränkungen lösen konnte.

Wo die Dichtkunst im sowjetischen Litauen auf komplexe und für die Zensur schwer zu entschlüsselnde Anspielungen setzte, zeigt sich die heutige dichtende Generation individualistisch und privat, ohne a priori unpolitisch zu sein. Was nur allzu verständlich ist nach einem verordneten Sozialistischem Realismus, der schon kleinste individualistische Tendenzen nicht tolerierte.

Worüber schreiben also heute junge litauische Dichterinnen und Dichter? Sechs Töchter und Söhne Litauens wurden von den Herausgebern ausgewählt und von ebenso vielen deutschen Lyrikerinnen und Lyrikern übersetzt. Da ist u.a. zu Anfang Nerijus Cibulskas, der in "August" einer Unbekannten von den olfaktorischen Aspekten seines Lebens berichtet und am Ende resümiert, "…da beschreibe ich dir diesen ganzen Geruch / aber du glaubst mir nicht mehr."

Tautvyda Marcinkevičiūtė erzählt in ihrem Prosagedicht "Als in Hamburg die Hamburger aufhörten zu regnen" zuletzt vom Ende des Niederschlags, "wenn es aufgehört hat Hamburger zu regnen und keine Vampire mehr am Blut der Bürgerlichen saugen". In "Verstauen wir alles in Schubladen" findet Simonas Bernotas in einer Schublade "mein Herz" und "in einer anderen / Das Deine" und weiter "In einer Schublade / Mein Wüten / In einer anderen / Dein Schluchzen".

Die Lyrik, die uns in dieser Anthologie begegnet ist formvoll und formlos, mit Interpunktion und ohne, sowie insgesamt auf erfrischende Art geneigt, etwas Substanzielles mitzuteilen. Wer wissen will, was jungen Dichterinnen und Dichtern aus Litauen unter die Feder oder Tastatur kommt, findet im "Lied vom Spaziergang" durchweg fein gearbeitete Gedichte, die plausible und sehr poetische Geschichten transportieren. Und das ist immer eine Empfehlung wert.

Eine Rezension von Matthias Ehlers

Literaturangaben:
Rūta Eidukevičienė und Hans Thill (Hrsg): Lied vom Spaziergang. Gedichte aus Litauen. Dt/Lit.
Poesie der Nachbarn, Band 35
Mit Gedichten von Simonas Bernotas, Nerijus Cibulskas, Vaiva Grainytė, Birutė Grašytė-Black, Tautvyda Marcinkevičiūtė, Donatas Petrošius
Übersetzt von Uwe Kolbe, Dagmara Kraus, Thomas Kunst, Marcus Roloff, Lara Rüter und Sonja vom Brocke
Verlag Das Wunderhorn, 2024
191 Seiten, 26 Euro