Aktuelle Lyrik

"Schriftstellen" von Barbara Köhler

Stand: 15.03.2024, 14:45 Uhr

Das subversive Potenzial der Differenz: Drei Jahre nach ihrem Tod liegt ein Sammelband mit ausgewählten Gedichten und Texten der Dichterin, Essayistin und Übersetzerin Barbara Köhler vor.

Als Autorin für die WDR 5 Kulturprogramme hatte ich das Privileg 2012, bei der "Antrittsvorlesung zur Thomas-Kling-Poetikdozentur" von Barbara Köhler "anwesend" sein zu dürfen. "Anwesenheit" ist auch möglich, ohne wirklich "anwesend" zu sein, darauf wies Köhler gerne hin. Es versteht sich von selbst, dass aber eine Performance von Barbara Köhler die komplette Anwesenheit von Körper und Geist verlangt, um der blitzgescheiten Selbst-, Sprach- und Kulturbefragung folgen zu können und Rhythmus, Laut- und Klang aufzunehmen.

Was ist denn nun die Aufgabe der Schriftstellerin? Herausgeberin Marie Luise Knott hat eine kluge Entscheidung getroffen, Auszüge aus dieser Bonner Antrittsvorlesung dem Band von ausgewählten Gedichten voranzustellen. Satz um Satz, Gedanke und Gedanke wird darin die Poetik der Barbara Köhler erleb- und begreifbar.

Barbara Köhler wurde 1959 bei Amerika/Sachsen in der DDR geboren. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass gerade der manipulative Sprachgebrauch der DDR-Ideologen einen freidenkenden Menschen wie Barbara Köhler erst recht zur Sprache brachte. Laut Stasi-Akte produzierte Köhler Aufkleber, auf denen die Forderung "Freiheit" zu lesen war. Allerdings hatte Köhler den Buchstaben "h" durchgestrichen und durch "z" ersetzt. Ein erstes Beispiel für ihre noch zu entwickelnde Poetik der Verschiebung und Differenz.

In ihrem Werk untersucht die gelernte Kunstschmiedin mit Leidenschaft und Witz die Relationen zwischen einzelnen Lauten oder Wörtern, zwischen Sprachen, Texten und Welten. Dabei bringen kleinste Verschiebungen Bewegung in die Sprache, produzieren neue Bedeutungen, schaffen Gegenwart, verändern im besten Fall die Verhältnisse. "Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd, / Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt"; heißt es im Gedicht Rondeau Allemagne, das heute in keiner deutschsprachigen Gedichtanthologie fehlen darf.

In einem abgeschotteten Land wie der DDR diente die Arbeit mit der Sprache Köhler immer auch der Grenzüberschreitung und dem Reisen. Eine berühmte Reise hat es Köhler dabei besonders angetan. Schon als Kind faszinierte sie Homers Odyssee. Diese setzte eine "Denk- und Sprachspur in Gang", die sich ab Niemands Frau durch ihr ganzes Werk zieht.

"DIE WEISSEN KOMMEN: eine horde helden die KriegerSchlägerMörderVergewaltiger: vieh tiere schweine zweiundzwanzig männer auf eine frau & keinen chef dabei vor dem sie kuschen würden. Aus Troja kommen sie aus zehn jahren krieg aus angst & auf befehl die fremde zu erobern (das wär ich)", lautet die Geschichtsversion von Köhlers KIRKE, leider eine Beschreibung die gar nicht so weit von unserer Gegenwart weg ist. Hauptmotiv der Köhlerschen Odyssee-Intervention ist es, die weiblichen Stimmen in den Text zu weben, eine weibliche Gegenerzählung zum antiken Helden-Epos zu schaffen.

Barbara Köhler starb viel zu früh nach langer Krankheit 2021. Ihre Reisen in die Vieldeutigkeit und Beweglichkeit der (deutschen) Sprache fehlen; erst recht in einer Zeit, in der ideologische Sprache wieder an Dominanz gewinnt. Ihr Werk zeigt, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt, Wirklichkeit niemals nur aus einer Perspektive besteht. Es ist tröstlich, dass mit "Schriftstellen" nun repräsentative Teile ihres Werks wunderbar editiert in einem Band zugänglich sind.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
Barbara Köhler: Schriftstellen. Ausgewählte Gedichte und andere Texte
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marie Luise Knott
Mit zahlreichen Abbildungen
Bibliothek Suhrkamp 1554, 2024
261 Seiten, 25 Euro