Aktuelle Lyrik

"Eine raffinierte Grenze aus Licht". Japanische Dichtung der Gegenwart

Stand: 01.09.2023, 12:10 Uhr

Lyrik aus dem "Land der aufgehenden Sonne". Die umfangreiche Anthologie "Eine raffinierte Grenze aus Licht" stellt junge japanische Dichterinnen und Dichter vor.

Fangen wir mal ausnahmsweise mit dem Nachwort von der Co-Herausgeberin Marion Poschmann an, die hierzulande bekannt ist als Lyrikerin und Romanautorin. 2014 hat Marion Poschmann drei Monate in Kyoto gelebt, wo sie versucht hat, mit der japanischen Gegenwartslyrik in Kontakt zu kommen. Wie schwierig bis unmöglich das war, erzählt sie im Nachwort so anschaulich, dass man nicht dabei gewesen sein will. Anscheinend kennt man in Japan keine bis gar keine öffentlichen Lesungen von zeitgenössischer Lyrik.

Als Poschmann dann doch noch einen "Poetry Contest" ausfindig machen konnte, fand der in einer religiösen Verehrungsstätte, im Yasaka-Schrein im Maruyama-Park in Kyoto statt. Allerding ohne Publikum, wie die deutsche Schriftstellerin feststellen musste. Die Lyriker:innen wollten unter ihresgleichen bleiben.

Japanische Gegenwartslyrik dürfte insgesamt für die meisten Terra Incognita sein, es sei denn, man ist Japanologin. Das ist Gottseidank die andere Herausgeberin dieser bemerkenswerten Anthologie, Yoko Tawada. Der verdanken wir ein faktenreiches und ausgesprochen fundiertes Vorwort, das uns die in "Eine raffinierte Grenze aus Licht" versammelten einzelnen Autorinnen und Autoren vorstellt und einordnet.

Yoko Tawada selbst ist eine renommierte und vielseitige Schriftstellerin, die Essays, Prosa und Lyrik veröffentlicht hat. Sie schreibt auf Deutsch und Japanisch und ist in Deutschland bekannt als Vermittlerin von zeitgenössischer und alter japanischer Literatur.

Yoko Tawada hat für die vorliegende Anthologie eine Auswahl von in Japan renommierten Lyrikerinnen und Lyrikern getroffen, die mit jeweils mehreren Gedichten vertreten sind. Übersetzt wurden die Gedichte von Yoko Tawada selbst und von namhaften deutschen Dichterinnen und Dichtern, die nach Rohfassungen gearbeitet haben, wie u.a. Ann Cotten, Daniela Danz, Marcel Beyer, Monika Rinck, Lutz Seiler und Marion Poschmann.

Diese Anthologie erhebt den Anspruch, eine repräsentative Darstellung der japanischen Gegenwartslyrik zu leisten. Das versammelte poetische Material ist überraschend zugänglich, auch weil sich deren Verfasser:innen komplett von traditionellen japanischen Lyrik-Formen wie Haiku, Tanka oder Waka gelöst haben.

In freien Versen wird all das erzählt, was junge Japanerinnen und Japaner umtreibt und das unterscheidet sich nicht so viel von dem, was junge Lyriker:innen in anderen Teilen der Welt verfassen.

Wer wunderbare zeitgenössische japanische Lyrik kennenlernen und sich vielleicht auch noch mittels Vorwort und Nachwort in die Materie reinknien will, liegt mit dieser außergewöhnlich gut gemachten Anthologie mehr als richtig.

Eine Rezension von Matthias Ehlers

Literaturangaben:
Eine raffinierte Grenze aus Licht.
Japanische Dichtung der Gegenwart
Herausgegeben von Yoko Tawada und Marion Poschmann
Wallstein Verlag, 2023
208 Seiten, 22 Euro