Aktuelle Lyrik

"Die gestundete Zeit" - Das Lyrik-Debüt der Ingeborg Bachmann

Stand: 14.12.2023, 13:42 Uhr

70 Jahre nach Erstpublikation liegt das Lyrik-Debüt Ingeborg Bachmanns erstmals als kommentierte Ausgabe in der Salzburger Bachmann Edition vor. Nach dem Briefwechsel mit Max Frisch eine weitere Einladung, sich mit der bedeutenden Autorin auseinanderzusetzen.

"Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont. / (…) Sieh dich nicht um. / Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. / Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! / Es kommen härtere Tage", prophezeit das sprechende Ich Ingeborg Bachmanns im titelgebenden Gedicht ihres ersten Gedichtbands "Die gestundete Zeit" aus dem Jahr 1953.

Es sind Gedichte voller Pathos und Schönheit – vor allem aber voller Rätsel. Worum geht es? Warum Lupinen? Wer wird angesprochen? Und was beinhaltet die "gestundete Zeit?"

Die minutiösen Kommentierungen hat die Herausgeberin Irene Fußl verfasst, die neben Hinweisen zu Aufbau, Themen und Motiven auch spätere Publikationen Bachmanns, Briefwechsel und den Nachlass miteinbezieht. So erhalten heutige Leser eine umfassende Einordnung.

Überzeugend legt Fußl dar, dass Bachmanns Lebensthema - das Schreiben als Frau in einer männlich dominierten Welt, welches später die Beziehung zu Max Fisch bestimmt, auch schon in Bachmanns legendärem Lyrik-Debüt anklingt. Und auch hier spielt eine unmögliche Liebe eine Rolle.

Der Paul Celan gewidmete Gedichtband ist als ein verborgener, "verzweifelte Dialog" mit dem jüdischen Dichter aus der Bukowina zu lesen. Bachmann war Celan 1948 begegnet. Aber er hatte hat die Liebe zu der Tätertochter als "Vergehen" an den im Holocaust ermordeten Eltern empfunden.

"Die gestundete Zeit" steht für die unmittelbare Zeit nach 1945, eine Zeit des Friedens, von dem man nicht wusste, wie lange er dauerte. Eine Zeit, in der bald auch Wirtschaftswunder und Restauration im Adenauer-Deutschland einsetzten.

Gestundete Zeit, weil niemand die Vergangenheit thematisierte. Gestundete Zeit, weil die Shoah noch kein Thema und die Frage nach der Schuld noch nicht gestellt war. Bachmann aber stellt sie, sucht in der lyrischen Form einen Umgang mit dem eigenen Schuldempfinden.

"Sieben Jahre später, / in einem Totenhaus, / trinken die Henker von gestern / den goldenen Becher aus. / Die Augen täten dir sinken./ (..)Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: / schon ist Mittag", lauten die Zeilen im Gedicht "Früher Mittag".

Seltsamerweise sahen die meisten Kritiker in Bachmanns Lyrik dennoch „lediglich zeitlose Schönheit“ ohne Gegenwartsbezug.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit. Salzburger Bachmann Edition
Herausgegeben von Irene Fußl
Mit einem Vorwort von Hans Höller
Suhrkamp Verlag, 2023
270 Seiten, 34 Euro