Schemenhaft singend wandert er durch düstere und fahle Winterlandschaften. Ein Fremdling, ein Mensch ohne Heimat. Im ersten Moment ein unglücklich Verliebter, der weiterziehen muss ohne Ziel, allein mit seinen Träumen und Melancholien. Bei näherer Betrachtung ein Suchender, der sein Lebensschicksal selbst in die Hand nimmt.
Wer dieser Winterreisende eigentlich ist und wohin ihn seine äußeren und inneren Reisewege führen, bleibt merkwürdig unbestimmt. Wir erleben Seelenzustände von Liebe, Schmerz, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit und Entfremdung, die in sich kreisen. Wir werden Zeuge extremer, unnachgiebiger Gefühlskontraste. Schubert nutzt diese Gegensätze als erzählerisches Element. Er selbst spricht von einem "Zyklus schauerlicher Lieder", die ihm mehr als alle anderen gefallen. Seine Freunde reagieren zunächst schockiert.
Die "Winterreise" erscheint als Gedichtsammlung in einer Zeitschrift, die im österreichischen Polizei- und Überwachungsstaat der Schubert-Zeit verboten wird. Auch die Lektüre ist strafbar. Schubert liest die Gedichte trotzdem und schreibt 1827 Musik dazu. "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus" - Worte und Töne, die immer wieder Aktualität finden.
Grenzenlos subjektiv besingt der Winterreisende sein Schicksal. Eines, das viele Zuhörer nachempfinden können, das offen für viele Deutungen ist. Der Pianist und Liedimprovisator Michael Gees sieht darin die Idee, sich seinem Leben und Schicksal zu stellen, wie er sagt: "In dieser Herausforderung besteht die eigentliche Mission der Winterreise und der innere Grund dafür, warum dieses Stück so außerordentlich populär ist, warum es die Menschen so angeht, warum es sie so betrifft, warum beispielsweise gleich nach Ende des zweiten Weltkrieges die Leute scharenweise in die Winterreise gepilgert sind." Bis heute gehört Schuberts "Winterreise" zu den meistaufgeführten und -aufgenommenen Liederzyklen.
Franz Schubert komponiert die 24 Lieder in zwei Abteilungen und setzt die Texte Wilhelm Müllers in eine neue Reihenfolge. Die ersten Aufführungen bringen nur einzelne Liedgruppen zu Gehör. In den Noten finden sich nur wenige Vortragsbezeichnungen. Die Interpreten sind sehr frei in ihren Entscheidungen. Immer wieder wird die "Winterreise" auch verziert, bearbeitet, dramatisiert, modernisiert oder verfilmt. Einzelne Lieder verselbständigen sich: "Am Brunnen vor dem Tore" wird zum Inbegriff von Heimatgefühl und romantischem Männergesang. "Der Leiermann" wird oft als Stellvertreter des Todes verstanden.
Der Pianist Michael Gees folgt in seinen Erläuterungen den existentiellen Schicksalswegen des Winterreisenden. Er zeigt uns seine Sicht auf Wort und Ton und bietet eine persönliche Deutung an, die nicht im Tod endet. Es singt der Tenor Christoph Prégardien.
Eine Collage von Antonia Ronnewinkel
Redaktion: Eva Küllmer
Sendung
CD-Tipp
Franz Schubert: Winterreise D.911
Christoph Prégardien (Tenor)
Michael Gees (Klavier)
Label: Challenge
Bestellnummer: CC72596