"Ich habe einen Zyklus Lieder geschrieben, die alle ihr gewidmet sind.", bekennt der 24-jährige Gustav Mahler. Sie ist Sopranistin am Stadttheater Kassel und weist den jungen Kapellmeister ab. "Ich möchte jeden Blutstropfen für sie hingeben, aber ich weiß, dass ich fort muss." – Ist Mahler etwa selbst der fahrende Gesell, der hier sein Schicksal besingt?
Die Texte der Lieder stammen jedenfalls von Gustav Mahler. Angeregt durch Gedichte aus der Volksliedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" entstehen sehr persönliche und assoziative Verse. Klagende Rufe wie "O weh" und "Ade" stehen im großen Kontrast zur Naturidylle schöner Welten mit Lindenbaum und Vogelgesang. Wie immer macht Mahler all diese Klänge hörbar: Sonnenschein, Vogelrufe, Glöckchen, Alpenmelodik. Zwei der Lieder finden übrigens später Eingang in Mahlers erste Sinfonie.
1884-85 entstanden, bilden die "Lieder eines fahrenden Gesellen" den ersten Zyklus mit Orchesterliedern in der Musikgeschichte. Obwohl Mahler die Lieder zuerst für Bariton und Klavier komponiert, sind sie von Anfang an orchestral gedacht. Bei der Uraufführung am 16. März 1896 tritt ein großes Sinfonieorchester samt Triangel, Glockenspiel und Harfe an. Komplexe musikalische Strukturen stehen im Gegensatz zur einfachen Volksliedmelodik. "Schlicht, nicht sentimental", schreibt Mahler und lehnt jede strophische Wiederholung ab, "weil in der Musik das Gesetz ewigen Werdens, ewiger Entwicklung liegt — wie die Welt, selbst am gleichen Ort, eine immer andere, ewig wechselnde und neue ist."
Schon mit neunzehn Jahren bekennt Gustav Mahler in Briefen verzweifelt, zwischen Lebenskraft und Todessehnsucht hin- und hergerissen zu sein. In seinen Liedern inszeniert er diese Vielschichtigkeit. Ein fahrender Gesell zieht in die Welt hinaus und wandert so vor sich hin. Gleich zu Beginn des Zyklus hört er aus der Ferne die fröhliche Hochzeitsmusik seiner Angebeteten, doch wenn er dieselbe Melodie wiederholt, klingt sie ganz anders: düster und schleppend. Der Zauber der um ihn herum tönenden Natur lässt den tiefen Schmerz nur noch stärker wirken. Wilde Eifersucht lässt die Singstimme fast schreien und flüstern. Ein Trauermarsch führt schließlich zur (letzten?) Ruhe.
Viele Fragen bleiben offen. Was passiert am Ende unter dem Lindenbaum? Findet der fahrende Gesell' den Tod oder seinen Frieden? Wie reihen sich Mahlers vier Lieder ein in die Tradition der Wanderlieder unglücklich Verliebter, z.B. Franz Schuberts "Winterreise"?
Der Pianist und Liedbegleiter Michael Gees spricht seine Gedanken dazu aus. Mit seiner persönlichen Erfahrung aus Konzerten und Aufnahmen zusammen mit dem Tenor Christoph Prégardien, erläutert er Sinnzusammenhänge der "Gesellenlieder" in Text und Musik.
Eine Collage von Antonia Ronnewinkel
Redaktion: Eva Küllmer
Sendung
CD-Tipp
Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen
Christoph Prégardien (Tenor)
Micahel Gees (Klavier)
Label: hänssler classic
Bestellnummer: 98.256