Die Etüden von Chopin sind besonders anspruchsvoll. "Da gibt es Geschichten, wie Pianisten daran gescheitert sind, wie sie daran zerschellt sind, vor vollgepacktem Saal", erzählt Martin Stadtfeld. Aber auch er hat eine Angstgeschichte zu erzählen. Für die erste Begegnung mit seinem Lehrer Lev Natochenny hatte Stadtfeld die Etüde op. 25 Nr. 11 ausgewählt, die "Sturmetüde". Er war fürchterlich aufgeregt. Zwar bewältigte er die Technik, der Kopf kam aber nicht hinterher. "In ein paar Jahren werden deine Finger über die Tasten fliegen", meinte Natochenny damals gütig.
Auch in der Hochschule, erinnert sich Stadtfeld, galten die Etüden Chopins als Marksteine, an ihnen trennte sich die pianistische Spreu vom Weizen. Mit seiner Interpretation der Etüden will sich Martin Stadtfeld von solchen virtuosen Wettbewerbsgedanken allerdings befreien. Auf einem Steingraeber-Flügel, der einem Instrument des Jahres 1895 nachempfunden ist, erkundet er vor allem die klanglichen Tiefenschichten der Stücke.
Stadtfeld sieht die 12 Etüden op. 10 und 12 Etüden op. 25 als Zyklus, den Chopin im Hinblick auf Bach angeordnet hat. Manche haben ihre deutlichen Vorbilder in Präludien aus dem "Wohltemperiertem Klavier", obwohl sie nicht nach streng tonartlichen Prinzipien angeordnet sind. Um die Bach-Verwandtschaft hervorzuheben, koppelt Stadtfeld die Etüden in seinen Konzerten gern mit Werken des Thomaskantors, auf CD verbindet er sie mit choralhaften Improvisationen. Einige Chopin-Etüden sind zusammenhängend komponiert, schließen direkt aneinander an.
Andere sind Einzelwerke, die der geschäftstüchtige Komponist als Widmungsstücke schrieb und gleich in mehreren Ländern veröffentlichte. Bedarf war da, der Markt für Übungsmaterial wuchs im 19. Jahrhundert immens. Zu den berühmten "Lieferanten" für diese Literatur zählten zum Beispiel Carl Czerny, Ignaz Moscheles oder Friedrich Wilhelm Kalkbrenner.
Martin Stadtfeld nennt Chopins Stücke "Sonaten en miniature", mit gewagter Chromatik, vielen überraschenden Wendungen und meisterhaft gestalteten Schlusstakten. Manche Etüden erhielten mehr oder weniger treffende Beinamen. Am bekanntesten ist wohl die "Revolutionsetüde" op. 10 Nr. 12, in deren stürmischen Wüten Robert Schumann die Auflehnung der Polen gegen die Russen zu hören meinte.
Op. 10 Nr. 5 trägt den kuriosen Beinamen "Die Negerin", weil sie (fast) nur auf schwarzen Tasten gespielt wird. Und mit dem Chopin-Film "Abschiedswalzer" wurde schon 1934 die Etüde op. 10 Nr. 3 zur Schnulze "In mir klingt ein Lied" verkitscht. Gerade sie bürstet Martin Stadtfeld gegen den Strich - und gibt ihr damit ihre ursprüngliche Poesie zurück.
Eine Collage von Markus Bruderreck
Redaktion: Eva Küllmer
Sendung
CD-Tipp
Martin Stadtfeld: Chopin +
Martin Stadtfeld, Klavier
Label: Sony Classical
Bestellnummer: 88985369352