Die klammen, zersprungenen Melodien von Schuberts "Winterreise", ihre gefrorenen Tränen und klirrenden Fahnen führen in eisige Welten der Einsamkeit. Hans Zenders "komponierte Interpretation" ist weit mehr als eine Orchestrierung: Sie gibt dem Original die verstörende Radikalität zurück.
"In gehender Bewegung" ist Franz Schuberts Vorspiel zum ersten Lied überschrieben. Sein Auszug aus der Stadt, wo er eine zerbrochene Liebe zurücklässt, treibt den fremden Wanderer mit gleichmäßigen Achteln im schnellen Schritt ziellos umher. Abwärts fällt die Melodie. Hans Zender setzt mit dieser "gehenden Bewegung" das Thema einer theatralischen Szene. Mit Schlagwerkgeräuschen wird Schuberts Schrittrhythmus isoliert: beunruhigende Tritte, von den Streichern mit harten Schlägen des Bogenholzes auf die Saiten begleitet. Die Gitarre versucht den vertrauten Gang zu finden, wie desorientiert wehen Segmente der absteigenden Melodie hinein und treten auf der Stelle. Mit stockenden Loops gerät diese Bewegung ins Straucheln, gräbt Kratz- und Schleifspuren in den Schnee. Zender lässt die Musiker erst allmählich auftreten: Musik entsteht aus der Bewegung, und nicht dem Sänger allein gehört die Bühne. Fast tröstlich setzt dann das Streichquartett mit der "altbekannten" Melodie im demonstrativen Schönklang ein – bis zur nächsten Verunsicherung.
Als Schubert seinen Freunden einen "Zyklus schauerlicher Lieder" ankündigte, gab er ihnen zugleich seine ganze Liebe mit: "Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war". So erinnerte sich Joseph von Spaun an den ungeheuerlichen Abend, als Schubert ihnen die ganze "Winterreise" "mit bewegter Stimme" vorsang. Die "düstere Stimmung" der Lieder ließ die Freunde ratlos zurück – nur der später so populär gewordene "Lindenbaum" gefiel. Wilhelm Müller, der Dichter der Textvorlage, war jung gestorben, als Schubert 1827 gerade mit der Komposition begonnen hatte, und konnte wohl nie etwas von der Vertonung erfahren. Als die ersten zwölf Lieder im Januar 1828 in Druck erschienen, hatte Schubert selbst nur noch zehn Monate zu leben. Wenige Wochen nach seinem Tod kam der zweite Teil heraus. Diese Verschränkung von persönlichem Schicksal und künstlerischer Gestaltung der Todessehnsucht ist Teil des Mythos um die "Winterreise", erklärt aber nicht ihren geradezu unheimlich verdichteten Ausdrucksgehalt.
Annäherung an die existenzielle Wucht des Originals
Um verklärende Mythen ist es Hans Zender wenig zu tun. Als Dirigent, Komponist und Essayist steht er für einen aufklärerischen Impetus. Zenders wacher Geist und scharfer Verstand entkleidet diesen Tempel der Liedkunst aller Larmoyanz und Verkitschung "am Brunnen vor dem Tore". Zenders Zugang macht bewusst, dass die "Interpretation" des Musikstücks einen Doppelsinn trägt: nicht nur Darstellung, sondern Re-Lektüre. Der Interpret, so Zender, wird zum "Mitautor", indem er aus der "historischen Asche" neue Funken schlägt. Seine "komponierte Interpretation" der "Winterreise" führt diesen Ansatz fort und hört das historische Werk mit den Ohren des späten 20. Jahrhunderts. Und die haben den Expressionismus und die analytische Klangfarbenmelodie ebenso wie die Emanzipation des Geräuschhaften erfahren, kennen das Ausloten von dynamischen Extremen ebenso wie Spieltechniken, die nicht mehr auf Schönklang abzielen, sondern auch denaturierte, schmerz- und schattenhafte Töne herausschleudern.
Zender greift auf Schuberts originale Tenorlage zurück und lässt die Singstimme über weite Strecken unverändert. Nur manchmal wandert die Melodie in ein oder mehrere Instrumente, während der Sänger in fixiertem Rhythmus oder frei spricht. Der Klaviersatz verteilt sich auf Holz- und Blechbläser, Schlagwerk, Harfe und Streichquintett, aber auch auf die "Folkloreinstrumente" Gitarre, Akkordeon und Mundharmonika. So akzentuiert Zender die Verwurzelung dieser Kunstlieder in der Volksmusik, im Sinne einer Mahler’schen Vermischung von Trivialem und Metaphysischem. Die Fassung überblendet ästhetische Perspektiven: "die Archaik von Akkordeon und Gitarre, die biedermeierliche Salonkultur des Streichquartetts, die extravertierte Dramatik der spätromantischen Sinfonik, die brutale Zeichenhaftigkeit moderner Klangformen", so Zender.
Eine teils bewusst vordergründige Geräuschhaftigkeit schärft das dramatische Potenzial: Windmaschinen, klirrende Eisenstäbe, Regenbleche verhärten Eis und Frost in dieser unwirtlichen Landschaft. Mit harten Holzbalken wird der "schöne" Streichersatz in "Einsamkeit" aufgemischt, die Streicher schneiden dem Sänger in "Auf dem Flusse" das Wort ab und reißen ihre Saiten mit dem Plektron an. Die Winterstürme verwehen die Singstimme und brechen sie in Fragmente auseinander – man hört förmlich, wie sie gegen den Schnee ankämpft ("Der stürmische Morgen").
Zenders Interpretation öffnet Assoziations- und Seelenräume. In "Das Wirtshaus" führt er in einem verlängerten Vorspiel auf den Totenacker mit einer Blasmusik, die einen dörflichen Leichenzug imitiert. "Die Post" lässt sich die Inszenierung eines Posthorns nicht entgehen: sowohl durch entsprechende Instrumentation als auch durch Mahler’sche Signalmotivik. Das Metrum dehnt und staucht sich, verstärkt so den Erlebniszeitraum zwischen aufgeregter Erwartung und somnambuler Resignation.
Klangwanderung durch Raum und Zeit
"Jede Notenschrift", sagt Zender, sei "eine Aufforderung zur Aktion". Was zunächst die individuelle Lesart der Interpreten meint, ihnen aber aber auch theatrale Möglichkeiten eröffnet. Zender schreibt eine performative Mitgestaltung der Akteure in die Partitur ein: Die Musiker wechseln im Verlauf des Zyklus mehrfach ihre Positionen. Sie sollen "langsam und in sich versunken gehen" – ein kollektives Traumwandeln, das die Wanderung hinaus in die Stille auch szenisch instrumentiert. Verschiedene Formationen eines Fernorchesters vergrößern den Klangraum: Das Herzweh hallt in der unbarmherzigen Natur wider, in der die Hunde auf der gepressten Saite der Violine knurren und die Blätter wie spitze Pfeile zu Boden fallen. Nur manchmal wiegt sie den Träumer in schönem Schein, gaukelt ihm Blüten und Irrlichter vor. Zender denkt bei diesen lyrischen Inseln immer die Irritation mit und lässt die trügerische Idylle auseinanderfallen: etwa durch unterschwellige Bedrohungen (das Tamtam im "Lindenbaum") oder das Splittern der gläsernen Flageolett-Klänge (Harfe und Gitarre in "Täuschung").
Schuberts Wanderer ist nicht nur ein liebes- und lebenskranker Mensch. Er bahnt sich auch seinen Weg durch das eisige Klima der Restauration im Wien um 1810, in dem die Utopien von Freiheit und Demokratie ins Leere liefen. Metternichs Spitzelsystem trieb viele Intellektuelle "in die Wüstenei’n" der inneren Emigration. So lässt sich die "Winterreise" auch als eine politische Allegorie hören. Hans Zender stützt diese Lesart, indem er die Singstimme durch die Interaktion mit den Musikern und die Öffnung des Klangraums in einen öffentlichen Raum stellt. Kein Wunder, dass seine Bearbeitung auch Choreografen angeregt hat, etwa John Neumeier, Christian Spuck oder Gregor Zöllig.
Die Nähe und Ferne zum Schubert’schen Original durchläuft in Zenders Fassung mehrere Stadien. Rückt er manche Passagen ganz dicht an einen "authentischen" Ton heran, brechen andere Stellen völlig aus. Zum Schluss wird die Ordnung zunehmend labiler. In den "Nebensonnen" laufen drei Temposchichten nebeneinander her und vernebeln die Sinne. Die Drehfigur im "Leiermann" – bei Schubert ganz gleichmäßig – ist metrisch instabil, grotesk-hektisch oder traurig-stupid. Die Tonarten verrutschen "auf dem Eise" und lösen sich in einem vagen Klangfeld auf. Dem Wanderer bleibt nur sein Traum.