WDR 5 Stadtgespräch: Wie umgehen mit gewaltbereiten Jugendlichen?  

Stand: 11.05.2023, 22:46 Uhr

Seit der Corona-Pandemie steigt die Zahl der Jugendstraftaten wieder. Meistens geht es um Körperverletzung, Diebstahl oder Sachbeschädigung. Wie dem entgegenwirken? Darüber wurde beim WDR 5 Stadtgespräch in Gelsenkirchen diskutiert.

Von Jana Brauer

Messerattacken an Schulen, Raubüberfälle auf Gleichaltrige oder sogar Mord - kriminelle Jugendliche haben zuletzt für mehr Gewalt- und Straftaten gesorgt. Im vergangenen Jahr ist die Kinder- und Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen um knapp 16 Prozent angestiegen. Kinder bis 14 Jahren verübten beispielsweise ein Drittel mehr Straftaten.

Diese Entwicklung sorgte am Donnerstagabend für eine angeregte Diskussion und viele Wortmeldungen beim WDR 5 Stadtgespräch - live aus der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen. "Mir fällt es immer mehr auf, wie gewaltbereit junge Menschen sind", meldet sich direkt zu Beginn ein Schüler aus Gelsenkirchen zu Wort. Das merke er auch schon bei Fünftklässlern. "Wie kommt es dazu?", fragt daraufhin ein Besucher, der beruflich Jugendliche betreut.

Experte spricht vom "Jo-Jo-Effekt"

Ahmet Toprak forscht zu Jugendkriminalität | Bildquelle: WDR

Der Erziehungswissenschaftler und Professor an der FH Dortmund, Ahmet Toprak, gehört an diesem Abend zu den Podiumsgästen. Er spricht nicht von einer drastischen Zunahme der Jugendkriminalität, sondern von einem "Jo-Jo-Effekt": "Jetzt nach Corona geht es hoch. In ein paar Jahren geht es aber wahrscheinlich wieder runter", gibt er zu Bedenken.

Die Wissenschaft beobachte die Entwicklung seit den 70er Jahren. Für ihn ist auch die veränderte Bewertung von Gewalt entscheidend: "Wir sind empfindlicher geworden. Gewalt wird nicht mehr als Lappalie wahrgenommen."

"Viele werden nicht gehört"

Berat Ergüner teilt Erfahrungen | Bildquelle: WDR

Gegenüber vom Podium sitzen um die 60 Menschen im Publikum und hören aufmerksam zu. Eine Mischung aus Schülerinnen und Schülern, Eltern und anderen Besuchern, die das Thema bewegt. "Zurzeit kommen viele schnell auf 180. Wollen sich nichts mehr gefallen lassen", erzählt Berat Ergüner.

Er ist 23 Jahre alt und war früher selber kriminell. An diesem Abend sitzt er auf der Bühne und spricht ins Mikrofon. Der junge Mann aus Duisburg hatte mit 11 Jahren bereits drei Strafanzeigen, war gewalttätig. Dann wird er ins Projekt "Kurve kriegen" aufgenommen und schafft es, sich von kriminellen Strukturen zu befreien.

Mittlerweile berichtet er als Absolvent von "Kurve kriegen" von seinen Erfahrungen. "Viele werden nicht gehört. Jemand hat ein Problem, aber niemand hört ihm zu", beschreibt er die Situation mancher junger Menschen. Um Aufmerksamkeit zu kriegen, würden sie sich denken: "Mach ich mal was".

Soziales Umfeld spielt große Rolle

Laut Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak ist Gewalt auch eine Problematik der sozialen Lage. Die straffälligen Jugendlichen kommen häufig aus ärmeren Verhältnissen und benachteiligten Stadtteilen. Sie haben nicht gelernt, zu kommunizieren, nicht gelernt, Konflikte ohne Gewalt auszutragen.

Die Täter die schlagen, sind auch Opfer. Heute haben sie geschlagen. Gestern wurden sie geschlagen. Ahmet Toprak

Auch Berat Ergüner sagt: Mein soziales Umfeld war das Problem. Kriminalität war Realität in der Familie und im Freundeskreis. Andere hätten ihm als Kind gesagt, dass er machen könne, was er wolle. Er würde keine Strafanzeige kriegen.

Einfluss von Sozialen Medien

Vor allem die Frage nach dem Einfluss von Sozialen Medien beschäftigt viele an diesem Abend. "Ich beobachte, dass soziale Medien viel ausmachen. Zum Beispiel auf TikTok gibt es Videos, wo Jugendliche sich gegenseitig aufstacheln", berichtet eine Mutter. Die Schüler im Publikum nicken zustimmend. "Ich glaube nicht, dass die Soziale Medien schuld sind. Eher desensibilisierend", gibt eine Schülerin zu Bedenken. Man könne viele Videos einfach sehen, es gebe keine Altersbeschränkungen.

Vera Lemke von der Jugendgerichtshilfe Essen | Bildquelle: WDR

Vera Lemke von Jugendgerichtshilfe Essen ist ständig im Kontakt mit Jugendlichen, die eine Straftat begangen haben. Auch sie ist Teil der Podiumsdiskussion. "Straftaten im Bereich Soziale Medien haben zugenommen", macht sie deutlich. Junge Menschen werden beleidigt, aufgenommen und bloß gestellt. Hier sei es auch wichtig, dass die Eltern wissen, was ihre Kinder auf dem Handy schauen.

Mögliche Wege aus der Gewalt

Wie mit gewalttätigen Jugendlichen umgehen? Was dagegen tun? Das fragt sich die Diskussionsrunde in der Aula der Gelsenkirchener Gesamtschule. Berat Ergüner berichtet davon, wie ein Aufenthaltsraum mit einem Kicker in einer Schule geholfen hat. Die Jugendlichen hatten dadurch anderes zu tun, als sich und andere zu prügeln. Auch an der Gesamtschule in Gelsenkirchen ist ein sogenannter "Pessure-Raum" in der Planung - ein Ort, um Druck ablassen zu können.

Schüler beteiligen sich an der Diskussion | Bildquelle: WDR

Die Beteiligten sind sich einig: Angebote der Sozialen Arbeit sind immens wichtig und werden glücklicherweise auch schon gut gefördert. Die Jugendlichen müssten wieder lernen respektvoll mit anderen umzugehen. "Ich glaube, dass oft auch Zuhause Respektlosigkeit herrscht", sagt Vera Lemke.

Quarks XL: Psychisch gesund – Was Kinder und Jugendliche stark macht! Quarks 11.05.2023 01:29:31 Std. UT DGS Verfügbar bis 11.05.2028 WDR

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Härtere Strafen sinnvoll?

Bei der Frage, ob härtere Strafen eine sinnvolle Maßnahme sein könnten, ist man sich ebenfalls einig. "Auf gar keinen Fall nach der härteren Strafe schreien", so Lemke. Das Gute am Jugendstrafrecht sei, dass ganz individuell geschaut wird, was gut für einen Jugendlichen ist.

Hätte man mich härter angepackt, hätte ich zugemacht. Berat Ergüner

Studien belegen: Einsperren und härtere Strafen alleine nützen nichts. Rund sieben von zehn jugendlichen Gewalttätern werden nach einem Gefängnisaufenthalt wieder rückfällig. Publikum und Podiumsgäste betonen auch nochmal die Wichtigkeit von Vorbildern. "Wer ist wirklich real und wer labert einfach nur", sagt Berat Ergüner.

Zukunftsperspektiven

Auch wenn schon viel getan wird, haben die Experten an diesem Abend klare Forderungen für die Zukunft. "Mehr Geld für Kinder", sagt Vera Lemke und erntet lauten Applaus. "Kinderarmut ist schrecklich. Das darf sich die Gesellschaft nicht leisten." Auch Berat Ergüner fordert noch mehr Förderung von sozialen Initiativen. Zum Schluss fügt er noch hinzu: "Wir sind die Zukunft und nicht die Älteren!"

Stadtgespräch aus Gelsenkirchen: Gewaltbereite Jugendliche WDR 5 Stadtgespräch 11.05.2023 55:59 Min. Verfügbar bis 10.05.2026 WDR 5

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