Wer täglich die Nachrichten verfolgt, kann den Eindruck bekommen, dass sie sich häufen: Angriffe mit Messern. Auf den Partymeilen von Städten wie Köln oder Düsseldorf, an Bahnhöfen und sogar auf Schulhöfen wird offenbar immer schneller zum Messer gegriffen.
Erst vergangenes Wochenende wurden bei einer Messerstecherei in Köln-Riehl zwei Jugendliche schwer verletzt. Am Freitag zuvor hatte ein 34-jähriger Mann in Hamm an der Hochschule vier Menschen mit einem Messer angegriffen, eine 30-jährige Frau war dabei gestorben. Im Mai hatte ein 15-Jähriger bei einem Streit mit anderen Jugendlichen auf einem Sportplatz in Bielefeld einen anderen jungen Mann tödlich verletzt.
Das sagen die Zahlen
Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik der vergangenen Jahre zeigt allerdings: Die Zahl der Gewalttaten mit einem Messer hat abgenommen. Waren es 2019 noch 5.780 Fälle, sank die Zahl 2020 auf 4.669 und 2021 weiter auf 4.397. Aber: Die Brutalität dabei stieg offenbar. Während 2019 noch fast ein Drittel der Angegriffenen unverletzt blieb und in der Statistik keine Todesopfer genannt werden, starben im folgenden Jahr 37 Menschen bei Messerattacken, 338 wurden schwer verletzt. Im vergangenen Jahr starben 30 Menschen durch Messerangriffe.
Erst seit 2019 führt die Polizei Messerangriffe als eigene Kategorie der Gewalttaten auf. Deutlich wird aber bereits: Täter sind zu 90 Prozent Männer, jeder zweite war vergangenes Jahr unter 30 Jahre alt, 42 Prozent der Täter sind nicht-deutsch. Ein Drittel der Taten geschah auf Straßen, Wegen oder Plätzen.
Was hat sich verändert?
Besonders bei jungen Männern sei ein Anstieg von Männlichkeitsnormen zu beobachten, sagt Dirk Baier, Professor für Gewaltforschung an der Uni Zürich. Gewalt sei wieder "cool", um damit Anerkennung und Akzeptanz zu gewinnen. Möglicherweise gebe es "bestimmte mediale Vorbilder", da Jugendliche vor allem in den Sozialen Medien häufig mit Gewaltdarstellungen in Kontakt kämen.
Wenn Jugendliche ein Messer mit sich herumtragen, gehe es aber im Wesentlichen darum, "sich als Mann zu inszenieren und vor den gleichaltrigen Freunden, die das ebenfalls praktizieren, nicht als Looser dazustehen", sagt Baier. Die Wenigsten hätten dabei den Gedanken, es auch einsetzen zu wollen, seien "nicht neugierig darauf, zu erfahren, wie es ist, jemanden abzustechen", betont er: "Der Gefahr, der sie sich selbst und auch anderen aussetzen, sind sie sich nicht bewusst." Mit dem Messer sei die Illusion verbunden, "alles kontrollieren zu können". Wenn es dann aber zur Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen komme, sei es "recht schnell gezogen, mit teilweise fatalen Konsequenzen".
Sozialarbeiter: Jugendliche sind vor allem unsicher
Sozialarbeiter Philipp Schmitz hat in seinem Jugendtreff "Offene Tür" in Düsseldorf-Wersten hautnah mit dem Problem zu tun. Nach den jüngsten, tödlichen Messerattacken haben er und seine Kolleginnen mit den Kindern und Jugendlichen darüber gesprochen, berichtet er. Und dabei vor allem Unsicherheit gespürt: "Viele fühlen sich mit einem Messer in der Tasche einfach etwas sicherer", so die Erkenntnis. Dass das ein "Trugschluss" sei und die Gefahr einer Eskalation mit schlimmen Folgen groß, "daran arbeiten wir mit den Kindern und Jugendlichen".
Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation
Ursachen für diese Unsicherheit bei jungen Menschen sieht Schmitz auch in den Folgen der Pandemie: "Sie sind in den vergangenen zwei Jahren durch viele Krisen gegangen." Die bei Heranwachsenden wichtige Sozialisation in der Gruppe habe lange Zeit gar nicht stattgefunden. Genau hier aber würde normalerweise die gewaltfreie Lösung von Konflikten trainiert. Auch der Ukraine-Krieg schüre sehr viel Unsicherheit, die Inflation und damit verbundene Geldsorgen der Eltern bekämen sie noch obendrein hautnah mit.
Zurzeit hätten Kinder und Jugendliche keine Chance, "in dieses meine-Zukunft-wird-gut-Gefühl" zu kommen, stellt Schmitz fest. All das führe dazu, dass viele Jugendliche unter erhöhtem Druck stünden, sich in der Gruppe behaupten zu müssen, "zu beweisen, dass ich der Stärkere bin".
Hoher Anteil "nicht-deutscher" Täter
Mit rund 42 Prozent ist der Anteil der nicht-deutschen Täter relativ hoch. Zur Einordnung: Knapp 16 Prozent der NRW-Bevölkerung hat keine deutsche Staatsangehörigkeit. Generell gebe es keine 'Messerkultur' bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, stellt Kriminologe und Soziologe Baier klar. Häufiger seien sie aber sozial schlechter gestellt und auch deshalb öfter "mit Gleichaltrigen zusammen, die Anerkennung über die Darstellung von Männlichkeit gewinnen möchten".
Auch Michael Mertens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW, sieht das so: Viele junge Männer sähen im Tragen eines Messers "eine besondere Ausprägung der Männlichkeit", sagt er. Die Erfahrung der Polizei zeige zwar, dass man das teilweise "mit bestimmten Kulturkreisen in Verbindung bringen" könne - aber auch der soziale Status und Bildungsgrad spiele eine entscheidende Rolle: "Viele wissen nicht, wie gefährlich Messerattacken sind", sagt Mertens, "sie denken an Videospiele, wo die Menschen nachher wieder aufstehen - aber das ist leider nicht der Fall".
Was bringen Waffenverbotszonen?
Seit Weihnachten 2021 gelten in NRW mehrere sogenannte Waffenverbotszonen: In Köln sind das die Ringe und die Zülpicher Straße - besonders bei Jüngeren beliebte Partymeilen. In Düsseldorf ist es die Altstadt. An Wochenenden und vor Feiertagen ist dort das Tragen von Waffen nicht erlaubt, die Polizei kann anlasslos kontrollieren. Bußgelder von bis zu 10.000 Euro sind möglich.
Die Bilanz des NRW-Innenministerium nach einem halben Jahr fällt allerdings eher mager aus: In Düsseldorf und Köln zusammen seien demnach 154 Messer und sonstige Waffen festgestellt worden. Bei 25 Wochenenden in diesem Zeitraum heißt das, grob gerechnet, etwas mehr als drei Waffenfunde an jedem Ort pro Wochenende.
Die Zahlen seien allerdings noch nicht repräsentativ, erklärte Noch-Innenminister Herbert Reul (CDU) dazu: In den ersten Monaten sei "wegen Corona und der kalten Jahreszeit generell weniger in den Ausgehvierteln los" gewesen, dementsprechend seien auch weniger Straftaten begangen worden. Ende 2022 soll der Erfolg der Waffenverbotszonen evaluiert werden.
GdP-Cef Mertens hält Waffenverbotszonen in allen öffentlichen Bereichen, wo viele Menschen "partymäßig" zusammenkommen, für sinnvoll. Dort müsse jeder damit rechnen, kontrolliert zu werden. "Der Kontrolldruck", hofft er, könne dazu beitragen, "dass sich die Menschen rechtskonform verhalten".
Allerdings gehe es vielmehr um ein gesamtgesellschaftliches Thema, und hier sei nicht nur die Polizei gefragt. Auch Vereine und Schulen müssten mitmachen: "Wir müssen junge Menschen darüber aufklären, wie gefährlich solche Waffen sind."
Und ihnen aus ihrer Unsicherheit helfen, sagt Sozialarbeiter Philipp Schmitz. Dazu seien aber mehr Kräfte in sozialen Einrichtungen wie seiner nötig, die sich individueller um die Bedürfnisse der Jugendlichen kümmern können. Im Haus "Offene Tür" in Düsseldorf-Wersten sind es derzeit gerade mal zwei Mitarbeiter, sagt Schmitz, die sich im Schnitt um 30 "Besucher" kümmern.