Wer eine Wohnung oder ein Haus besitzt, kennt diese Mitteilung: Jedes Jahr schickt die Stadtverwaltung eine Auflistung der "Grundgebühren", die von allen Einwohner erhoben wird. Der dickste Posten neben den Steuern: Die Abwasserentsorgung. Mieter zahlen diese Abwassergebühr meist über ihre Nebenkostenvorauszahlung an den Vermieter.
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster kam am Dienstag zu dem Urteil, dass an dieser Stelle über Jahre zu viel Geld eingezogen wurde: Die Abwassergebühren seien rechtswidrig zu hoch gewesen.
Ein Mann aus Oer-Erkenschwick hatte gegen die Abwassergebühren, die die Stadt 2016 erhoben hatte, geklagt: Sie seien zu hoch. Das OVG prüfte den Vorwurf - und tatsächlich: Die Gebühren waren insgesamt um rund 18 Prozent überhöht. Immerhin - bei 599 Euro Gebühren, die der Kläger bezahlen musste, wären das 120 Euro zu viel gezahlt.
Das Gericht fand "grundlegende Kalkulationsfehler" - die so wohl nicht nur in Oer-Erkenschwick passiert sind.
Worum geht es genau?
Die Abwassergebühren setzen sich aus verschiedenen Faktoren zusammen - neben den Betriebskosten unter anderem aus dem sogenannten "Abschreibungswert" und den aktuellen Zinsen. Die beklagte Stadt hatte bei der Abschreibung der Entwässerungsanlagen immer den Neuwert geltend gemacht. Und sie hatte zu hohe Zinsen zugrunde gelegt.
Bislang war diese Rechnung in Kommunen üblich und entsprach auch dem Kommunalabgabengesetz. Durch das OVG-Urteil aber könnte dieser Passus im Gesetz jetzt kippen – was Konsequenzen nicht nur für Oer-Erkenschwick hätte. Denn das Urteil gilt jetzt als Muster-Verfahren und könnte eine Änderung der Landesgesetze zur Folge haben.
Im Kommunalministerium, das letztlich für eine Gesetzesänderung zuständig ist, gibt man sich bislang schmallippig: Das Urteil sei weitreichend und müsse erst intensiv geprüft werden. Aber schon jetzt räumt ein Sprecher ein: "Eine Prüfung schließt auch mögliche Veränderungen an landesgesetzlichen Grundlagen ein". Allerdings bleibe erstmal abzuwarten, ob Oer-Erkenschwick tatsächlich Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht erheben will.
Ob das geschehe, dazu könne die Stadt derzeit noch keine Aussage machen, heißt es auf WDR-Nachfrage in Oer-Erkenschwick. Zunächst wolle man das schriftliche Urteil einschließlich Begründung abwarten, so ein Sprecher.
Kommunen sind nervös
Dennoch: Bei den Kommunen in NRW herrsche seit dem OVG-Urteil "Anspannung", sagt Philipp Stempel, Sprecher beim Städte- und Gemeindebund NRW. Seit 1994 hätten die Kommunen sich bei ihren Gebührenabrechnungen auf das geltende Gesetz gestützt. "Jetzt muss vielleicht alles neu berechnet werden."
Klar sei: Das Gebührenrecht schreibe vor, dass die Städte bei den Gebühren keinen Gewinn machen dürfen. "Es dürfen nur so viele Gebühren erhoben werden, dass die Kosten der Einrichtung gedeckt sind." Bei den Abwassergebühren ist die Materie aber komplex: Bisher gab das Gesetz vor, dass Anschaffungs- und Betriebskosten und auch die Zinssätze der letzten 50 Jahre gemittelt werden, um die aktuellen Gebühren zu berechnen.
Dabei wird der sogenannte "Wiederbeschaffungswert", also der Neuwert der Technikanlagen zugrunde gelegt, aber auch die über die Jahre schwankenden Zinsen, die beispielsweise in der 1970er Jahren viel höher waren als heute. "Und: Das Kanalnetz ist in 50 Jahren deutlich gewachsen", sagt Stempel. Die Kalkulation sei also äußerst kompliziert.
Mittelwert höchsten aus zehn Jahren
Das OVG kam nun dem Schluss, dass die Kommunen bei der Kalkulation ihrer Abwassergebühren nur die Zinsen der letzten zehn Jahre zugrunde legen dürfen. Bei der Abschreibung vom Wiederbeschaffungszeitwert müssten außerdem die realen Zinsen berücksichtigt werden. Während Oer-Erkenschwick bisher einen Zinssatz von 6,52 Prozent zugrunde legte, dürfte der laut OVG derzeit nur bei 2,42 Prozent liegen.
Der Bund der Steuerzahler NRW habe ausgerechnet, dass sich die Stadt Oer-Erkenschwick von den sechs Millionen Euro Abwassergebühren, die sie erhoben hatte, "knapp eine Millionen in die Taschen gestopft" habe, sagt Wilhelm Achelpöhler, Anwalt für Verwaltungsrecht, im Namen des Steuerzahlerbunds. Das Urteil werde "erhebliche Auswirkungen" auf die Gebühren in NRW haben.
Jetzt noch gegen Bescheid 2022 wehren
Und: Für die Gebühren 2022 sei noch alles offen. Wer seinen Gebührenbescheid noch bekommt oder kürzlich erst bekommen hat, solle daher unbedingt Widerspruch einlegen und auf die Entscheidung des OVG verweisen. Denn auf der Grundlage des alten Gesetzes sei der Preis "rechtswidrig".
Viele Bürger in NRW hatten bei ihren jeweiligen Kommunen Widerspruch gegen die Abwassergebühren eingelegt, sagt Achelpöhler, waren damit aber abgewiesen worden. Wer aber gegen diese Ablehnung geklagt habe, der könne jetzt auch die zuviel gezahlten Gebühren zurückverlangen, sagt der Verwaltunsgrechtler. Das OVG-Urteil gebe ihm Recht.
Und auch das sagt Achelpöhler: Nicht nur beim Abwasser, auch bei den Gebühren für Straßenreinigung und Müllabfuhr müsse man davon ausgehen, dass Bürger jahrelang zu viel gezahlt hätten.