Tim Malewski ist Rettungssanitäter in Dülmen und ganz neu in seinem Job. Es ist gerade mal seine zweite Schicht, als am vergangenen Wochenende ein Notruf eingeht. Ein junger Mann brauche Hilfe, man möge schnell kommen. Der Einsatz endet im Krankenhaus - und zwar für Tim Malewski.
Denn der 27-jährige Sanitäter wird von dem alkoholisierten und psychisch kranken Patienten angegriffen. Erst bekommt er unvermittelt einen Faustschlag ins Gesicht. Danach verfolgt der Patient die Sanitäter, die sich in ihren Wagen flüchten, mit einem Pflasterstein, den er auf das Fahrzeug wirft. Malewski wird verletzt und muss seine Schrammen und die Folgen des Faustschlags behandeln lassen.
Woher kommt der Hass auf Einsatzkräfte?
Und das war noch nicht einmal der einzige Zwischenfall in Dülmen am vergangenen Wochenende. Eine Polizistin wurde dort bei einem Einsatz körperlich angegangen, ihr Kollege war nach mehreren Schlägen ins Gesicht dienstunfähig. Verlässliche Zahlen zu tätlichen Angriffen auf Mitglieder von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten im Einsatz gibt es derzeit zwar kaum, aber die Aggressivität hat nach Einschätzung der Betroffenen zugenommen. So hat das NRW-Innenministerium bereits im vergangenen Jahr ein Online-Meldeportal für Feuerwehr und Rettungsdienst eingerichtet, die Gewalt im Dienst erleben. Und auch der Deutsche Feuerwehrverband stellte in seinem Bundeskongress am Donnerstag die Frage: "Woher kommt der Hass auf Einsatzkräfte?"
Minderwertigkeitskomplexe und toxische Männlichkeit
Der Psychologe Ahmad Mansour, der beim Feuerwehr-Kongress spricht, sieht die Gewalt, die in manchen migrantischen Familien herrsche, als Problem. Wer aus autoritären Familien komme, entwickele schneller Minderwertigkeitskomplexe. "Die zu kompensieren, bedeutet auf die Straße zu gehen und eine toxische Männlichkeit zu zeigen", sagte er dem Deutschlandfunk.
Für den Bielefelder Konfliktforscher Jonas Rees greift es dagegen zu kurz, sich in der Betrachtung auf einzelne Bevökerungsgruppen und Situationen zu konzentrieren. Gewalt gegen Einsatzkräfte gehöre inzwischen zum Alltag, sagte er dem WDR - "so bitter das klingt". Einsatzkräfte seien laut Rees meist in Situationen, die viel Stress brächten und in denen andere schnell frustriert seien, etwa wenn Straßen oder Durchgänge blockiert würden: "Aus der Forschung wissen wir, dass Stress und Frust Aggressionen wahrscheinlicher machen."
Verhalten an Menschen in Ausnahmesituationen anpassen
"Es ist immer ein Risiko und auch anspruchsvoll, mit Patienten und deren Angehörigen umzugehen", sagte Olaf Engelbrecht vom Psychosozialen Dienst der Feuerwehr Braunschweig dem WDR. Er rät Einsatzkräften, sich in die Menschen, denen sie begegnen, hineinzuversetzen. "Menschen in Ausnahmesituationen reagieren auf drei verschiedene Weisen. Die einen können logische Entscheidungen treffen und Folgen abschätzen. Die anderen reagieren rein emotional. Und die dritten funktionieren nur noch nach einem Reiz-Reaktions-Schema", so Engelbrecht. Entsprechend angepasst sollte das Verhalten der Rettungskräfte sein, etwa wenn von verzweifelten Angedrohten mit Gewalt gedroht wird. "Man stellt die Leute vor die Wahl: Ich behandele Ihr Kind, aber nur, wenn Sie sich zehn Schritte entfernen. Ansonsten gehe ich" - so könnte laut Engelbrecht eine Reaktion aussehen.
Einsatzkräfte werden nicht als Individuen gesehen
"Gewalt wird wahrscheinlicher, wenn die Täter davon ausgehen, erst einmal anonym bleiben zu können", so Rees weiter. Manchmal unterstützte die Gruppe die Gewalt aktiv, indem angefeuert und gefilmt werde, um es später in den sozialen Medien hochzuladen. Manche trügen passiv dazu bei, indem nicht interveniert werde. "Wie kann es sein, dass niemand von den Umstehenden eingreift, wenn etwa wie an Silvester in Neukölln Gewalt gegen Feuerwehrleute ausgeübt wird?"
Die Uniformierung der Einsatzkräfte trage laut Rees dazu bei, dass diese oft gar nicht mehr als Individuen wahrgenommen würden: "Der Frust und die Wut entladen sich nicht gegen diese Individuen, sondern gegen den abstrakten Staat". An dieser Stelle die Wahrnehmung zu ändern sieht der Gewaltforscher auch als einen Hebel, um das Problem anzugehen: "Wir sprechen hier von Müttern und Vätern, von Töchtern und Söhnen. Die gehen zur Arbeit und wollen nach Dienstschluss einfach nur heil bei ihren Familien ankommen."
Angegriffener Sanitäter: "Lasse mich nicht abbringen"
Einer von ihnen ist der Sanitäter Tim Malewski. Er ist inzwischen wieder im Dienst in Dülmen, trotz Schrammen und Kopfschmerzen. Die Erinnerungen an den Einsatz dürften ihn zwar noch länger verfolgen. Doch entmutigen lässt er sich davon nicht. Rettungssanitäter sei einfach sein "Traumberuf", so Malewski. "Ich habe die Ausbildung gemacht, um Menschen zu helfen. Das werde ich auch weiter tun und dadurch lasse ich micht davon abbringen."
Über dieses Thema berichten wir am 07.09.2023 im WDR Hörfunk.
Unsere Quellen:
- Nachrichtenagenturen: dpa
- Deutschlandfunk
- Innenministerium NRW