"Pi mal Daumen" von Alina Bronsky

Stand: 15.08.2024, 22:58 Uhr

Autorin Alina Bronsky hat nochmal studiert, als sie Mitte 30 war. Dabei war sie schon eine erfolgreiche Schriftstellerin. Das Gefühl, die Älteste im Hörsaal zu sein, uralt neben den frisch gebackenen Abiturienten, kennt sie. Ihre Protagonistin in "Pi mal Daumen" erlebt Vergleichbares.

Alina Bronsky: Pi mal Daumen
Kiepenheuer&Witsch, 272 Seiten, 24 Euro

"Pi mal Daumen" von Alina Bronsky Lesestoff – neue Bücher 23.08.2024 04:34 Min. Verfügbar bis 23.08.2025 WDR Online Von Claudia Ingenhoven

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Moni ist Anfang 50. Sie versorgt ihren übellaunigen Mann, kümmert sich um ihre überforderte Tochter, ihre drei Enkel und arbeitet abends in einem Hotel. Für Kindergummistiefel, Feuchttücher, Gemüse schleppt sie eine blaue IKEA-Tasche mit sich rum. Mit dieser raschelnden Tasche betritt sie auch den Mathe-Hörsaal, zum ersten Mal, und setzt sich neben Oscar, einen erst 16-jährigen Studenten mit ausgeprägter Mathe-Begabung. Er ist der Ich-Erzähler, der Moni in ihrer Bluse im Leoparden-Look für eine Frau aus der Kantine hält. Als sie beginnt mitzuschreiben, kann er sich nicht mehr konzentrieren.

"Sie schrieb langsam, konzentriert, mit großen runden Buchstaben. Niemand würde es in diesem Tempo durchhalten. Mathematiker schrieben klein, schnell und unleserlich. Ich trainierte es seit der fünften Klasse."

Oscar ist elektrisiert vom ersten Semester. Seine wohlhabenden Eltern haben alle denkbaren Hindernisse aus dem Weg geräumt und ihm eine Wohnung in Uni-Nähe eingerichtet. Eine Hausmeisterin guckt nach ihm. Jetzt muss er nur noch Daniel Johannsen begegnen, das ist der Professor, den er bewundert.

"Ich wollte schnellstmöglich mit ihm ins Gespräch kommen und ihn um ein Thema für meine Bachelorarbeit bitten, idealerweise einen Baustein seiner Forschung, den er mir überlassen würde, um unsere Namen für immer miteinander zu verknüpfen."

Herablassend bietet Oscar an, die Hausaufgaben auch für Moni abzugeben. Sie wird sowieso bald aufgeben, da ist er sicher. Einmal begleitet er sie in die Mensa, obwohl er sich vor Menschenansammlungen ekelt, besonders vor nackten Oberarmen im Sommer. Aber einen Kamillentee lang wird er es aushalten. Er kann nicht fassen, dass ein Professor sich zu ihnen setzt und in dessen Schlepptau auch noch sein Idol, Daniel Johannsen. Wie sich herausstellt, kennt Moni ihn. Seit wann und woher, rückt sie nicht raus. Alina Bronsky hält in dieser Geschichte einiges in der Schwebe. Lange erfahren wir nicht, warum Moni ihrer Familie verheimlicht, dass sie studiert. Als ihr Mann ausrastet, kommt sie erstmal bei Oscar unter. Zum ersten Mal kann sie ungestört lernen, sie steigert sie sich in Aufgaben und Lösungswege hinein.

"Mehr als einmal war sie bereits vor das Fahrrad irgendeines jähzornigen Germanisten gelaufen oder hatte ihr Handy irgendwo liegen gelassen, das anschließend der ganze Hörsaal gemeinsam suchte. Es war nicht zu leugnen: Moni war im Begriff eine Mathematikerin zu werden."

Oscar muss wegen seiner autistischen Züge mit Einschränkungen leben. Aber gerade seine Perspektive auf den Fachbereich macht die Lektüre unterhaltsam: es befremdet ihn wenig, dass ein Professor sich Glöckchen in den Bart geflochten hat, dass ein anderer seine Einkäufe so zusammenstellt, dass er an der Kasse immer exakt 3 Euro 14 zurück bekommt.

Mit Sinn für Timing legt Alina Bronsky Krimi-Spuren aus. Oscar erfährt, dass Professor Johannsen auf der selben Schule war wie Moni und ihr Bruder Jan, auch ein Mathe-Verrückter mit autistischen Eigenheiten. Aber Jan ist verschwunden, eine Vermisstenanzeige hat ihn weder tot noch lebendig zurück gebracht.

Alina Bronsky verfolgt kein pädagogisches Programm, das ist das große Plus dieses liebenswerten, witzigen Romans. Aus dem kontaktgestörten Oscar wird kein soziales Wesen, Moni avanciert nicht zur Spitzenforscherin. Aber beide erkennen, was sie aneinander haben: ein Gegenüber, das mit ihren Eigenheiten klar kommt.