"Die Wunde" von Oxana Wassjakina

Stand: 17.05.2023, 12:00 Uhr

Der Verlust der Mutter als Ausgangspunkt für eine tiefe biografische Reflexion: Oxana Wassjakina reist mit der Asche ihre Mutter einmal quer durch Russland und findet sich selbst. Eine Rezension von Uli Hufen.

Oxana Wassjakina: Die Wunde
Aus dem Russischen von Maria Rajer.
Blumenbar, 2023.
300 Seiten, 22 Euro.

"Die Wunde" von Oxana Wassjakina Lesestoff – neue Bücher 17.05.2023 05:16 Min. Verfügbar bis 16.05.2024 WDR Online Von Ulrich Hufen

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Oxana Wassjakina ist um die 30, ihre Mutter um die 50. Aber die ältere der beiden Frauen ist jetzt tot. Brustkrebs, viel zu jung. Ihre Überreste befinden sich in einer geschmacklosen Urne. Zwischen Männern und Tochter hatte sich die Mutter zeitlebens stets für die Männer entschieden. Die kleine Oxana hingegen liebte die strahlend schöne Mutter innig und unbedingt. Ganz zum Schluss schliefen Mutter und Tochter eine Woche lang Kopf an Fuß auf einer Couch. Und jetzt will Oxana die Tote in der Heimat bestatten.

"Man kann sich schwer vorstellen, wie es ist, Gepäck aufzugeben, dass deine Mutter ist, aber ich war bereit, mich für ein paar Stunden von ihr zu trennen, um sie dann wieder zu sehen und in meine Moskauer Wohnung zu bringen. Vor mir lagen zwei schwere Monate Arbeit in einer staatlichen Galerie. Anschließend mehrere Flüge und eine 14-stündige Busfahrt durch die Taiga."

Die Reise führt aus einem Städtchen bei Wolgograd zunächst in die Hauptstadt. Hier ist die Tochter inzwischen zu Hause, hier hat sie ihre eher bildungsferne Herkunft hinter sich gelassen und wurde zur Dichterin. In Moskau hat Oxana auch gelernt, dass lesbisch zu sein kein Fluch ist, wie die Mutter glaubte. Von Moskau allerdings sind es noch mehrere Tausend Kilometer bis ins sibirische Ust-Ilimsk, an der Angara. Und natürlich: die lange Reise ist eine Reise zu den Ursprüngen, in die Vergangenheit, zu sich selbst:

"Ich spielte die Reise im Kopf durch. Immer wieder stellte ich sie mir vor, nicht als eine alltägliche Reise, sondern als etwas Festliches. Eine Reise in die Tiefen der Taiga. Mir schien, es müssten permanent Pauken über mir schlagen. Ich imaginiert mich als Charon, als Persephone, als Klagesängerin. Ich fuhr in die Hölle."

"Die Wunde" erschien im Original vor zwei Jahren im hochangesehen Moskauer Verlag "Neue Literarische Umschau" und traf weithin auf Begeisterung. Oder auf schroffe Ablehnung. Oxana Wassjakina hatte weder das erste feministische Buch der russischen Literatur geschrieben, noch ihren ersten autofiktionalen Text. Und doch war klar: Hier war eine wichtige neue Stimme. Furchtlos und klar. Jung und klug. Geschult an russischen wie westlichen Vorbildern, vertraut mit zeitgenössischen LGBT-Diskursen. Und doch: ganz sie selbst.

Genau hier liegt wohl der doppelte Wert dieses erstaunlichen Buches fürs deutsche Publikum: Fast alles, was Wassjakina über ihre Kindheit und Jugend im postsowjetischen Russland erzählt, zeugt von einer extremen und fremden sozialen Realität. Die russische Provinz ist ein Kosmos für sich. Gleichzeitig erzählt das Buch aber erkennbar von universellen Problemen: das Coming-Out in einer Gesellschaft, die Homosexuellen mindestens skeptisch gegenübersteht. Der Weg aus Provinz und Einzelhandel nach Moskau und in die Literatur. Der Kampf um eine eigene literarische Stimme. Die erste Liebe, der erste Sex, die Scham, das Glück, der Schmerz, die Erkenntnis.

"Mit einem Mann zu schlafen, war für mich leichter als leicht, weil sie keine Frauen waren. Mich nervten ihre Körper, sie waren hart, dumm, hässlich. Nicht so wie die Körper meiner Freundinnen, die ich stumm vergötterte. Ich vergötterte sie und konnte es mir nicht eingestehen. Am meisten verletzte mich, dass ihre Freundschaft zu mir aufrichtig war. Aber ihre Freundschaft stand in keinem Verhältnis zu meiner Lust."

Harte, kompromisslose Prosa ist das. Scheinbar schmuck- und tonlos in ihrer knappen, zuweilen brutalen Ehrlichkeit. Und gerade deshalb von strahlender Schönheit. Kein geringes Risiko, im Russland von heute, auch wenn die Lage unübersichtlich bleibt: Im Dezember wurden Moskauer Bibliotheken aufgefordert, Wassjakinas Bücher auszusortieren. In russischen Internetbuchhandlungen sind sie vorerst erhältlich: Zu "Die Wunde" sind inzwischen zwei weitere autofiktionale Romane gekommen, in denen Wassjakina von ihrer Tante Swetlana erzählt und von ihrem Vater. Auch letzteres eine Geschichte voller Sprengkraft: Wassjakinas Vater war ein heroinabhängiger Trucker mit krimineller Vergangenheit, der früh an AIDS starb. Hoffentlich werden auch "Die Rose" und "Die Steppe" bald übersetzt!